Qi Gong für Musiker — lockeres Spiel durch entspanntes Sein (Gitarre & Laute, Jahrgang XXI, Heft 3/1999)
von Frank Hartmann
Wenn es um Musik und Instrumentalspiel geht, stehen im allgemeinen die Musik, das konkrete Werk, die Interpretation und Gestaltung durch den ausführenden Musiker im Zentrum der Betrachtungen.
Dass dieses ‚Produkt’ Musik aber Endergebnis der Arbeit eines Menschen in seiner Gesamtheit ist — also geistig seelische und physische ‚Anstrengung’ bedeutet, wird oft übergangen.
Für Zuhörer und Kritiker mag dies angehen, denn beide sind nur an dem Endprodukt interessiert. Wir Musiker aber sollten uns darüber doch bewusst Gedanken machen, zumal es auf Grund der andauernden Musikausübung in definierten Spielhaltungen logischerweise zu entsprechenden körperlich manifestierten Symptomen kommen kann — von Verspannungen bis zu bleibenden Schäden. Diese körperlichen Manifestationen beeinflussen wiederum den Spielprozess, z.B. in Form von mangelnder Geläufigkeit bedingt durch muskuläre Verspannungen, und haben so auch Auswirkungen auf unsere Spiel- und Interpretationsfähigkeit.
Hier schließt sich ein Kreis, dessen ganze Tragweite den meisten Musikern nicht bewusst ist: der gestaltende Musiker wird durch das Instrumentalspiel und sein Instrument ‚gestaltet’, d. h. geformt, teils bis hin zur ‚physischen Deformation’ und — schlimmstenfalls — bis zur Berufsunfähigkeit. Diese physische ‚Formung’ durch das Instrumentalspiel beeinflusst bzw. begrenzt unter Umständen wiederum die musikalischen Gestaltungsmöglichkeiten. Als Beispiele für ‚physische Deformationen’ seien hier genannt Tinitus und Schwerhörigkeit bei Orchestermusikern, Halswirbelsäulensyndrom bei Streichern oder Symptome im Lendenwirbelbereich bei Gitarristen — von Rückenschmerzen bis hin zu Bandscheibenschäden.
Dass ‚musikalische Arbeit’ in der Öffentlichkeit — sozusagen auf dem Präsentierteller — bei Konzerten, Vorspielen, in Prüfungen, etc. Stress erzeugt, ist für alle Ausübenden durchaus normal und ihnen auch bewusst . Die Bandbreite der zur Abhilfe empfohlenen Strategien reicht von Hausmitteln bis zum Autogenen Training.
Weniger bewusst ist den Musikern im allgemeinen die Bedeutung der Atmung und des bewussten Einsatzes von Atemtechniken zur musikalischen Gestaltung und Verbesserung der Spieltechnik. Eine Ausnahme bilden hier naturgemäß Sänger und Bläser, da bei beiden die Tonerzeugung direkt von der Atmung abhängig ist.
Die bisher im Zusammenhang mit den aufgezeigten Themenbereichen praktizierten Atem und Körperübungssysteme bieten nur Lösungsansätze für jeweils einen der vorgenannten Problembereiche und werden mehr oder weniger getrennt vom Instrumentalspiel angewandt — der Transfer in die Spielpraxis ist mitunter schwierig.
Hier bietet sich in der alten chinesischen Kunst des Qi Gong ein um fassendes und seit Jahrhunderten gereiftes und erprobtes Heilsystem, das Lösungsansätze für alle vorgenannten Teilbereiche einschließt, in das Instrumentalspiel integrierbar ist und darüber hinaus inter- essante neue Ansätze zur Lösung spieltechnischer Probleme bietet.
Qi Gong als Verfahren der ‚Traditionellen chinesischen Medizin’
Die traditionelle chinesische Medizin (TCM) hat einen grundsätzlich völlig anderen Ansatz als die westliche Medizin. Sie ist dabei aber als eigenständiges System in sich genauso logisch, konsequent und systematisch — also wissenschaftlich -, wie die westliche Medizin und dabei sehr erfolgreich.
Während der westliche Arzt auf Grund von Symptomen nach einer konkreten Krankheitsursache sucht, sieht der chinesische Arzt die vorliegenden Symptome als einen Teilaspekt dieses speziellen Patienten, der ein komplexes und einzigartiges physiologisches und psychologisches System mit Regelkreisen und Rückkoppelungen darstellt(1). Dieses System versucht der chinesische Arzt regulierend in ein ‚individuelles’ Gleichgewicht zu bringen. J. Kaptchuck schreibt dazu: „Die chinesische Medizin ist deshalb eine holistische (ganzheitliche) Methode — begründet auf der Idee, dass jedes Element nur in seiner Relation zum Ganzen verstanden werden kann…Diese Medizin ist nicht weniger logisch als die westliche, sondern weniger analytisch.(2)“
Der Ansatz jeder Therapie in der TCM ist die Wiederherstellung des Gleichgewichts in dem komplexen System Mensch einschließlich seiner Beziehungen zu seinem Umfeld — der Ausgleich zwischen Yin und Yang. Yin und Yang als „…komplementäre Gegensätze stellen weder Kräfte noch materielle Wesenheiten und auch keine mythischen Konzepte dar, … Vielmehr müssen sie als nützliche Bezeichnungen betrachtet wer den, die der Beschreibung der Beziehungen der Dinge zueinander und zum Universum dienen.(3)“ Nach J. C. Cooper symbolisiert das Yin-Yang „… jede paarweise Existenz, …, doch kann man die beiden nicht als Gegebenheiten oder Einheit betrachten, sondern nur als Eigenschaften, die allen Dingen innewohnen.(4)“ In der TCM wird zur Wiederherstellung des Gleichgewichts von Yin und Yang neben Phytotherapie(5), Moxatherapie(6), Akupunktur und Akupressur auch Qi Gong therapeutisch eingesetzt.
Qi Gong wird des öfteren etwas vereinfachend mit „Atemheilgymnastik“ übersetzt und ist präventiver Bestandteil der traditionellen chinesischen Medizin. Es verbindet Atmung, locker fließende Bewegungen, Dehnungen, Konzentration auf verschiedene Meridiane bzw. Akupunktur punkte und Meditation zu einem ganzheitlichen und in den Grundzügen leicht erlernbaren Gesundheitssystem. Der Begriff Qi Gong bedeutet wörtlich übersetzt in etwa „Arbeiten am/mit Qi“(7), wobei Qi mangels eines der umfassenden chinesischen Bedeutung adäquaten Wortes mit Energie, Atem bzw. Lebenskraft übersetzt wird. Nach der Theorie des Qi Gong ist die Voraussetzung für Gesundheit und Vitalität, dass das Qi durch alle Meridiane(8) frei und ungehindert fließen kann. Fließt das Qi ungehindert, tritt u.a. eine erhöhte Sensibilität und Körperwahrnehmung ein, auf die auch G. Herrgott im Zusammenhang mit kinästhetischen Übungen hinweist(9).
Voraussetzung für das ungehinderte Zirkulieren des Qi ist, dass sich alle Gelenke locker in ihrer natürlichen Position befinden, sich im Rahmen ihres natürlichen Bewegungspotentials frei bewegen können und der Gesamttonus in Muskulatur und Gewebe bei korrekter Körperhaltung so niedrig wie möglich ist.
Eines der Grundprinzipien des Qi Gong — der Atem folgt der Aufmerksamkeit und führt die Bewegungen ist der Ansatzpunkt zur Übertragung der Qi Gong Übungen und Prinzipien auf den Musikeralltag.
Ansatzpunkte und Einsatz von Qi Gong in der instrumentalen Praxis
Beim ausübenden Musiker — egal ob Profi oder Laie — sind in der
Spielpraxis vier grundlegende Themenbereiche von entscheidender
Bedeutung:
· Atem und musikalische Gestaltung
· Stressprävention
· muskuläre Spannungen und Spieltechnik
· physische Belastungen durch die Spielhaltung
Diese vier Themenkomplexe sollen im folgenden unter dem Blickwinkel des Qi Gong näher untersucht werden.
Atem und musikalische Gestaltung
Atem und musikalischer Ausdruck sind untrennbar miteinander verbun- den — der Atemstrom formt bzw. trägt die musikalische Bewegung und Entwicklung(10). Dies gilt selbstverständlich nicht nur für Gesang und Blasinstrumente.
Über den bewussten Atem ist es — mit einiger Übung — möglich, Puls- und Herzfrequenz zu regulieren. Atem‑, Puls- und Herzfrequenz hängen voneinander ab und sind quasi das Bio- Metrum des Musikers — unser gesamtes Tempo- und Rhythmusempfinden bezieht sich auf diese Größen, da sie den Rhythmus und das Tempo, quasi den ‚Arbeitstakt’ der musizierenden ‚Bio Maschine Mensch’ bestimmen. Der Versuch, mit rasendem Puls ein einfaches Stück wie ‚Lagrima’ von F. Tarrega bewusst langsam, dolce und cantabile zu gestalten, ist von vornherein zum Scheitern verurteilt. Der Atem fungiert darüber hinaus sowohl im Einzelspiel als auch im Ensemble als elementarer rhythmischer Einsatzimpuls und als Gestaltungsmittel für Übergänge, Tempowechsel, Abphrasierungen und Schlusswendungen — ja für die gesamte agogische Gestaltung eines Werkes.
Durch Atemübungen im stillen Qi Gong(11) werden einerseits Atmung als solche und andererseits die bewusste Steuerbarkeit der Atmung erfahrbar gemacht. Eine Grundübung sei hier kurz vorgestellt:
Der übende liegt entspannt und gerade auf dem Rücken — möglichst auf einer Decke auf dem Boden. Die Arme liegen locker seitlich entlang des Körpers ausgestreckt, die Handinnenflächen sind nach unten gerichtet und Daumen und Zeigefinger formen entspannt einen Kreis.
In dieser Haltung wird zunächst nur ganz entspannt durch die Nase ein- und ausgeatmet — die Zungenspitze ruht locker hinter den oberen Schneidezähnen am Gaumen(12). Nach und nach wird die Konzentration auf das Heben und Senken der Bauchdecke beim Ein- und Ausströmen lassen der Atemluft gerichtet. Eventuell können am Anfang beide Hände über einander auf den Bauch gelegt werden, die Daumenballen liegen dabei auf dem Bauchnabel(13)- dies erleichtert die Konzentration auf die Bewegung der Bauchdecke. Ziel der Übung ist die tiefe Bauchatmung, d.h. die Lunge füllt und leert sich von unten nach oben. Durch Visualisierungen — wie ein- und ausströmen lassen, den Atem bewusst durch Nase und Kopf an der Wirbelsäule entlang nach unten bis in das Becken ein- und an Bauchdecke, Brustbein und Halsvorderseite entlang nach oben durch die Nase ausströmen lassen — kann die Übung entscheidend intensiviert werden. Um eine Hyperventilation zu vermeiden, muss immer die Ausatmung betont werden. Bei länger andauernder Übung mit Visualisierung sollte der Beckenboden leicht angespannt werden, um den Meridianpunkt Huyin(14)zu schließen und so Energieverlust zu vermeiden.
Bei entsprechender Übung können diese Atemübungen mit Visualisierung auch als Spielvorbereitung in der Instrumentalhaltung durchgeführt werden.
Stressprävention
Die nervliche Anspannung, der Stress vor und während des musikalischen Vortrags, egal ob Schülervorspiel, Prüfung oder öffentliches Konzert, ist immens. Der Faktor Stress zerfällt zunächst in zwei Teil bereiche — psychischen und physischen Stress — , die sich gegenseitig beeinflussen und zum Teil sogar bedingen, hier aber trotzdem einmal getrennt dargestellt und betrachtet werden sollen. Im psychologischen Bereich spielen Erwartungshaltungen — eigene und die anderer (Publikum, Arbeitgeber, etc.) — , daraus resultierender Erfolgsdruck, aber auch Rahmenbedingungen (Räumlichkeiten, eigene Fitness, etc.) und die individuelle psychische Disposition des Einzelnen eine sehr große Rolle.
Im physiologischen Bereich handelt es sich gewissermaßen um das Flucht oder Kampfprogramm, das wir evolutionsbedingt von unseren Vorfahren geerbt haben. Dies sind instinktive Verhaltensweisen, die je nach unserer Einschätzung der Situation mehr oder weniger zum Tragen kommen und sich unserer direkten willentlichen Beeinflussung entziehen. In bedrohlichen Situationen — vor Urzeiten der Angriff eines Tigers auf einen unserer Vorfahren, heute vielleicht ein Vorspiel, Konzert, etc. — schüttet unser Körper auf Grund dieses uralten Überlebensprogrammes das Stresshormon Adrenalin aus. Die Aufgabe des Adrenalins ist es, eine bessere Energieversorgung der Muskeln sicherzustellen, die Sinneswahrnehmung zu verbessern, etc., um den Körper auf die bevor stehende physische Höchstleistung vorzubereiten. Der Körper reagiert entsprechend: Herz- , Puls- , Atemfrequenz und damit auch der Blutdruck steigen ( Hitzeempfindungen und Schweißausbrüche inbegriffen), der Muskeltonus steigt (Kloß im Hals, kalte Hände wegen schlechterer Durchblutung), das Blut wird aus dem Magen abgezogen (Übelkeit), und man sieht und hört bis zum Programmrascheln in der letzten Reihe des Saals.
Betrachtet man Stress unter dem Aspekt der Yin-Yang — Theorie, so er gibt sich folgendes Bild:
Sind Yin und Yang im Gleichgewicht, herrscht Ruhe — überwiegt Yang oder ist Yin zu schwach, herrscht psychischer und/oder physischer Stress.
Wenn man in Betracht zieht, dass Atem‑, Herz- und Pulsfrequenz synchron laufen, ergibt sich allein durch die im vorherigen Kapitel beschriebene Visualisierung der Atmung eine Verlangsamung der Atmung und damit des gesamten Biorhythmus und eine Konzentrationsänderung von außen (Publikum, etc.) nach innen (Atmung) — eine zweifache Änderung vom Yang zum Yin, von Stress hin zur Ruhe und Gelassenheit.
Fortgeschrittener, aber auch wesentlich effektiver, ist der so genannte große Atemkreislauf. Beginnen sollte man mit dieser Übung allerdings erst, wenn die Bauchatmung beherrscht wird. Einleitend wird die im vorigen Kapitel erklärte Übung ausgeführt – entspannte Rückenlage, Zunge ruht entspannt hinter den oberen Schneidezähnen, Beckenboden leicht angespannt, Atmung wie beschrieben durch Visualisierung steuern. Nun wird als nächster Schritt beim Einatmen die
Aufmerksamkeit von dem Punkt Yongchuan(15) im Vorfuß über die Innenseite der Beine und an der Wirbelsäule entlang nach oben bis zum Scheitelpunkt Baihui geführt. Beim Ausatmen verläuft der Konzentrationsverlauf über die Mittellinie von Stirn — Gesicht — Hals — Brust — Bauch und die Rückseite der Beine hinunter zurück zu dem Punkt Yongchuan. Die Atmung sollte immer locker und ungezwungen sein — eventuell den gesamten Konzentrationsverlauf auf mehrere Atemzüge verteilen. Die Ausatmung wird betont ausgeführt — dies ist besonders bei Bluthochdruck wichtig.
Bei der vereinfachten Variante konzentriert man sich nur auf Yongchuan und atmet quasi durch diesen Punkt ein und aus.
Noch einmal eine kurze theoretische Ergänzung zur Stresskompensation mit Qi Gong Techniken, um die Funktionsweise deutlicher zu machen:
Wo der Geist (das Bewusst sein) Shen ist, ist Qi, denn „…, der Geist ist der Meister des Qi.(16)“ Ist der Geist außen (beim Publikum, zer- streut), ist auch das Qi — die Energie — außen, also nicht konzentriert und nicht nutzbar. Ist der Geist Shen in den Körper gerichtet, so ist das Qi im Körper und ist Shen auf den Kopf gerichtet, steigt das Qi dorthin. Die Folgen sind Unkonzentriertheit und ein Abschweifen der Gedanken, eine Art ‚innere Talkshow’, da Shen ausschließlich auf die geistigen Vorgänge gerichtet ist, und diese daher mit einem Übermaß der Energie Qi versorgt ein schwer kontrollierbares ‚Eigenleben’ entwickeln. Das Qi muss dorthin, wo während des Instrumentalspiels die Energie benötigt wird — es muss also abgesenkt werden. Das Yang-Qi (Aktivität) wird daher beim Ausatmen über den Konzentrationsverlauf an der Körpervorderseite und der Rückseite der Beine entlang nach unten gebracht. Beim Einatmen wird Yin-Qi (Ruhe) auf der Innenseite der Beine und der Körperrückseite nach oben geholt, um den Yang-Überschuss auszugleichen. Die Stressbedingte Kopflastigkeit wird so ausgeglichen, der Energiefluss wiederhergestellt und so eine optimale Ausgangssituation für das Vorspielen erreicht.
Muskuläre Spannungen und Spieltechnik
Muskuläre Spannungen und ihre Auswirkungen auf den Bewegungsfluss beim Instrumentalspiel sind hinlänglich bekannt(17) — Lockerheit ist die Voraussetzung für eine souveräne Spieltechnik. Andererseits kann schon eine geringfügige, unter Umständen auch örtlich begrenzte Steigerung des Muskeltonus verkrampftes und unkoordiniertes Spiel verursachen. Dies gilt bei der Spieltechnik der Gitarre selbstverständlich für beide Hände.
Im Bereich der Spieltechnik der linken Hand sollen die Stichworte Akkordwechsel — schnelles Melodiespiel — Lagenwechsel – Überstreckungen jedweder Art genügen.
Betrachtet man die rechte Hand, dürfen neben der reinen Geläufigkeit natürlich Tonkontrolle, Klangregister und jede Form der Artikulation nicht vergessen werden. Letztlich entscheidet die rechte Hand über die tonlichen Qualitäten der Musik, und der Ton in seiner Musikalisch-ästhetischen Substanz erschließt oder verschließt dem Zuhörer das gespielte Werk.
Auch das Zusammenspiel beider Hände — die Koordination zwischen rechts und links — und damit das musikalische Legatospiel ist, wie oben schon erwähnt, in hohem Maß vom Muskeltonus abhängig.
In unbewegtem Zustand sind die Finger leicht nach innen gekrümmt, die Muskeln — Beuger und Strecker — befinden sich in einem ‚Spannungsgleichgewicht, der ‚Ruhespannung’ oder ‚Vorspannung’. Ein weiteres Krümmen eines Gelenkes erfordert entweder eine höhere Anspannung des betreffenden Beugers, eine höhere Entspannung — also Dehnung — des Streckers oder eine Kombination aus beiden muskulären Prozessen.
Alle drei Bewegungsansätze sind bei geringerer ‚Vorspannung’ leichter zu realisieren. Dies führt zu schnelleren, präziseren Bewegungen, die auch exakter ‚getimet’ und damit besser koordiniert werden können.
Wie im Kapitel über Qi Gong als Verfahren der TCM dargelegt, ist eines der grundlegenden Ziele des Qi Gong die Minimierung des Gesamttonus, der ‚Vorspannung’ der Muskulatur bei korrekter Körperhaltung und freier Beweglichkeit der Gelenke. Das Bewegungsprinzip des Qi Gong zur Erreichung dieser Zielsetzung — der bewusste Atem trägt den weichen Fluss der Bewegungen — kann über das Bindeglied Atmung in das Instrumentalspiel übertragen werden. Dies ist gerade bei spiel- technischen Problemstellen, z.B. Dehnungen im Grenzbereich des anatomisch Möglichen, sehr gut anwendbar und führt nach meiner Erfahrung zu einer wesentlich entspannteren Bewältigung derartiger Passagen.
Bevor wir die Anwendung an konkreten spieltechnischen Beispielen betrachten, sollen einige Grundübungen des Qi Gong zu diesem Thema er läutert werden.
Hier eignet sich vor allem die Übung des ‚Fingeratmens(18) ’, die jeden einzelnen Finger bewusst anspricht. Diese Übung kann in etwas vereinfachter Form in die Spielhaltung übertragen wer den:
In der normalen Spielhaltung sitzend, beide Arme und Hände locker seitlich am Körper hängen lassen und ‚durch die Finger’ wie folgt ein- und ausatmen:
Beide Daumen leicht krümmen — einatmen, entspannen und durch die Daumen ausatmen; beide Zeigefinger leicht krümmen — einatmen, entspannen und durch Daumen und Zeigefinger ausatmen; usw.
Die Konzentration liegt beim Einatmen immer bei einem Fingerpaar, beim Ausatmen bei allen schon ‚geatmeten’ Fingerpaaren. Visualisiert wird die Vorstellung von ‚Luftschläuchen’, die in dem jeweiligen Finger beginnen bzw. enden und sie mit der Lunge verbinden — es wird in der Vorstellung quasi durch den/die Finger ein- bzw. ausgeatmet.
In den konkreten spieltechnischen Anwendungen bedeutet einatmen immer die Vorbereitung und ausatmen die Umsetzung der Bewegung. Einatmen heißt Energie (Luft) aufnehmen und führt über die Ausdehnung der Lunge zur Dehnung des Oberkörpers und damit zu einer erhöhten ‚Vorspannung’ im Muskelgewebe. Ausatmen entspricht also der Entspannung, dem ‚Zusammensinken’. Da Bewegungen — wie oben dargelegt — bei geringerer ‚Vorspannung’ lockerer zu realisieren sind, wird konsequenterweise im Ausatmen geübt und gespielt.
Das Heben des Fingersausholen/vorbereiten) wird mit dem Einatmen, das Senken (greifen/ anschlagen) mit dem Ausatmen verbunden. Als Ausnahmen seien hier z.B. Abzugsbindungen genannt: einatmen = wahrnehmen des gegriffenen Fingers, ausatmen = abziehen.
Eine sehr klare Übertragung dieser Bewegungsprinzipien ergibt sich z.B. bei spieltechnischen Übungen, wie Nr. 16 (Aufschlagsbindung) und Nr. 21 (Abzugsbindung) aus F. Tarregas ‚Technischen Studien’(19).
Auch Bindeübungen und Akkordanschlagsübungen aus R. Iznaolas‚ Kitharologus(20)’ oder Akkordzerlegungsstudien von A. Carlevaro(21) können
beispielhaft herangezogen werden. Bei Dehnungen bzw. Überstreckungen
entspricht das Einatmen dem bewussten Fühlen bzw. Wahrnehmen der zu
bewegenden Finger, das Ausatmen der Dehnung. Als Beispiel sei hier auf die Dehnübungen in R. Iznaolas ‚Kitharologus’ verwiesen (z.B. Nr.98).
Der Transfer des Qi Gong — Prinzips ‚Atem führt Bewegung’ ist bei den genannten Beispielen, unabhängig von der spieltechnischen Schwierigkeit, relativ einfach umzusetzen, da es sich um Übungen mit gleichbleibenden Bewegungsabläufen der linken oder rechten Hand handelt.
Die Aufmerksamkeit bleibt also bei einer Hand und es verbleibt genügend Konzentration für den bewussten Einsatz der Atemtechnik. Selbst- verständlich können auch andere ‚einseitige’ Übungen herangezogen werden.
Als Beispiele von Dehnungen aus der Vortragsliteratur seien hier noch Ausschnitte aus J.S. Bachs Präludium d Moll, BWV 999 und F. Sors Sonate op 25 erwähnt.
In dem Präludium von Bach muss in Takt 15 der Ton f im Bass auf der 6. Saite mit dem 1. Finger gehalten werden, während der kleine Finger einen Barré über 1., 2. und 3. Saite im 5. Bund greift. Es sollte vor dem Takt ein und in die Dehnung hinein ausgeatmet werden.
Im ersten Satz ‚Andante’ der Sonate op 25 von Sor erscheint in Takt 29/30 eine Figur, in der der 1. Finger im 3. Bund als Barré liegt, der 3. Finger den Ton a auf der 4. Saite spielen muss und im Takt 30 der 4. Finger die Tonfolge es-e‑f auf der 5. Saite abgreifen muss . Auch diese Überstreckung ist im Ausatmen wesentlich leichter zu bewältigen.
Einige der Qi Gong Übungen — wie z.B. spezielle Handgelenks- und Fingerdehnungen oder die 6 Übungen der Armmeridiane — eignen sich zu dem hervorragend als ‚Aufwärmübungen’ zur Spielvorbereitung. Speziell die Übungen der Armmeridiane wirken sehr entspannend und sensibilisierend im Hand‑, Arm‑, Schulter- bzw. Brust und Nackenbereich, da diese Meridiane in den einzelnen Fingern beginnen bzw. enden und im Verlauf über Armvorder- bzw. ‑rückseite und Schultern die Kopf- bzw. Brustregion erschließen. Diese Übungen regen speziell in den Armmeridianen den Fluss des Qi an und führen so zu einer erheblichen Entspannung und Sensibilisierung in diesen gerade für Musiker wichtigen Bereichen.
Physische Belastung durch die Spielhaltung
Hier soll nun die einseitige Belastung des Bewegungsapparates durch die Instrumentalhaltung beim Üben und Spielen sowie die Prävention daraus resultierender Folgeschäden näher betrachtet werden — der Gesundheitsaspekt wird leider meist viel zu wenig beachtet.
Die menschliche Anatomie ist grundsätzlich symmetrisch angelegt — sowohl im Bezug auf die Strukturen (2 Arme, 2 Beine, etc.) als auch im Bezug auf die Bewegungsrichtungen (Bewegung und Gegenbewegung, Muskel und Antagonist — z. B. Bizeps und Trizeps). Diese Feststellung ist zwar trivial, wird aber im alltäglichen Leben und gerade auch bei der Instrumentalhaltung geflissentlich ignoriert — teils aus Bequemlichkeit, teils aus Notwendigkeit. Der Schluss, der aus dieser scheinbar banalen Feststellung gezogen werden muss , heißt aber: jede länger andauernde, einseitige Belastung des Bewegungsapparates durch statische Körperhaltung ist systemfremd und damit mehr oder weniger gesundheitsschädlich. Das Paradoxe liegt schon darin, dass der Bewegungsapparat (dynamisch) eine Spielhaltung (statisch) realisieren soll. Die Folgen bei vielen GitarristInnen sind Fehlhaltungen und Verspannungen im Nacken‑, Hals- und Schulterbereich, Sehnenscheidenentzündungen und Beschwerden im Lendenwirbelbereich bis hin zu Schäden an Bandscheiben und Wirbelkörper.
Qi Gong beinhaltet eine sehr große Vielfalt an Körperübungen, um das oben bereits unter der Überschrift ‚Qi Gong als Verfahren der TCM’ beschriebene Ziel einer möglichst lockeren und natürlichen Körperhaltung zu erreichen. Das Repertoire reicht von einfachen Dehnübungen bis zu komplexen Bewegungsabläufen, wie z. B. die Bewegungszyklen Hexiangzhuang(22) oder Fafanhuagong(23). Allen Übungen ist das unter dem Kapitel ‚Qi Gong als Verfahren der TCM’ genannte Grundprinzip ‚Aufmerksamkeit — Atem — Bewegung’ gemeinsam. Diese Übungen eignen sich sehr gut und gezielt zur Haltungskorrektur bzw. zum Ausgleich einseitiger Belastungen.
Als Beispiel sei hier kurz eine einfache Grundübung — ‚Qi heben und senken’ — näher betrachtet:
Zunächst wird die Grundhaltung im Stehen eingenommen, d. h. die Füße stehen schulterbreit — Außenkanten parallel, die Knie sind leicht gebeugt und die Leisten bewusst entspannt. Die Wirbelsäule wird bewusst gerade aufgerichtet und der Scheitel wie von einem Faden nach oben gezogen. Man steht, als säße man mit gerade aufgerichtetem Oberkörper auf der Vorderkante eines hohen Hockers. Die Arme hängen locker seitlich herab — Handflächen zum Körper gedreht und das Kinn ist etwas eingezogen.
Ist die korrekte Haltung eingenommen und bewusst Schritt für Schritt noch einmal nachgespürt worden, wird durch bewusstes Anspannen und Entspannen eine ‚Spannungswelle’ im Körper erzeugt. Zuerst werden die Füße etwas angespannt (mit den Zehen in den Boden ‚krallen’), dann steigt die Spannungswelle über Unterschenkel, Knie (etwas strecken), Beckenboden, Wirbelsäule (strecken) bis zum Scheitel. Die Entspannung erfolgt in umgekehrter Reihenfolge von oben nach unten zurück zu den Füßen. Dieses bewusste Anspannen und Entspannen erfolgt synchron mit der unter dem Kapitel ‚Stressprävention’ beschriebenen Kreislaufatmung. Mit dem Einatmen steigen Spannungs- und Konzentrationsverlauf in den Füßen beginnend nach oben bis zum Scheitel, mit dem Ausatmen sinken Entspannungs- und Konzentrationsverlauf vom Scheitel zurück zu den Füßen.
Ist diese Verbindung von Atmung, Konzentration und Spannungswelle verinnerlicht, wird sie mit dem eigentlichen ‚Qi heben und senken’ der Arme verbunden. Mit dem Steigen der Spannungswelle und der Kreislaufatmung werden die Arme locker seitlich vom Körper gehoben (Hand flächen zeigen nach oben) bis sich die Fingerspitzen über dem Kopf fast berühren (Handflächen nach unten). Diese Position ist erreicht, wenn der Spannungs- und Konzentrationsverlauf im Scheitel angekommen ist.
Mit dem Sinken von Spannungswelle und Kreislaufatmung sinken auch die Hände vor dem Körper nach unten (Handflächen nach unten) und zurück zur Seite in die Ausgangsposition (Handflächen zum Körper), und erreichen diese mit dem Ende von Spannungswelle und Konzentrationsverlauf in den Füßen.
Diese Übung kann mehrmals wiederholt werden, sollte aber immer mit einer Abschlussübung beendet werden. Sehr geeignet erscheint mir hier das ‚Kreisen um Dan Tien(24)’. Dazu werden die Hände mit den Handflächen übereinander auf den Unterbauch gelegt, der Daumenballen der unteren Hand liegt auf dem Bauchnabel. Bei Frauen liegt die rechte Hand am Körper, bei Männern die linke. In dieser Stellung einige Male langsam und tief atmen, dann in Richtung des außen-liegenden Daumens nach unten kreisend beginnen und 9 größer werdende Kreise bis zu den Rippenbögen beschreiben. Anschließend folgen 6 kleiner werdende Kreise in entgegengesetzter Richtung zurück zur Ausgangsposition. Mit einigen ruhigen Atemzügen ist diese Übung beendet.
Schon am Beispiel dieser einfachen Grundübung ist deutlich erkennbar, dass bei Qi Gong- Übungen immer der ganze Körper einbezogen ist. Durch die Aufrichtung der Wirbelsäule wird speziell der Lendenwirbelbereich und die Halswirbelsäule gedehnt und entlastet, die seitliche Armbewegung dehnt die Brustmuskulatur und korrigiert die Haltung im Schulterbereich. Der Anspannung in der aufwärtsgerichteten Bewegung folgt die bewusste Entspannung im Sinken lassen (hier können z.B. ganz bewusst die Schultern entspannt werden), dem außen Steigen der Arme folgt das innen Sinken der Arme, der Bewegung folgt die Gegenbewegung — dem Yang folgt das Yin. Dies ist einer der Hauptgründe, warum meiner Erfahrung nach Qi Gong zur Korrektur und Kompensation einseitiger körperlicher Belastungen so hervorragend geeignet ist.
Der ganzheitliche positive Effekt ist eine regulierende Wirkung auf den Qi-Kreislauf und damit auch auf Atmung, Herz und Kreislauf.
Schlussbemerkung
Angemerkt sei hier zunächst noch, dass es hinreichend Literatur über Qi Gong-Übungen gibt — von einfachen Übungen bis hin zu den schon erwähnten komplexen Bewegungszyklen. Diese kann zwar keinesfalls die kompetente persönliche Anleitung durch einen erfahrenen Lehrer ersetzen, aber es lassen sich darin durchaus wichtige und wertvolle Anregungen und Hilfestellungen finden.
Es ergeben sich — wie oben ansatzweise dargestellt — unzählige Ansatzpunkte, Übungen und Techniken des Qi Gong sinnvoll und effizient mit der musikalischen Tätigkeit zu verbinden. Mit dem richtigen Ansatz und unter kompetenter Anleitung können die positiven Auswirkungen des Qi Gong auf Atmung (= musikalische Gestaltung und Stressprävention), Entspannung (= freier Bewegungsfluss, Sensibilisierung und Verbesserung der Spieltechnik) und Haltungskorrektur (= Ausgleich der physischen Belastung durch die Spielhaltung) miteinander verbunden werden. Die Effizienz des Übens kann erheblich gesteigert werden und Haltungsproblematiken können im Ansatz wirkungsvoll behoben bzw. kompensiert werden. Qi Gong ist somit eine wertvolle Ergänzung zum Üben — für Profis und Amateure.
–
(1)Vgl.: J. Kaptchuk, Das große Buch der chinesischen Medizin, München, 1997, S. 14 ff.
(2)ebenda, S. 18.
(3)ebenda, S. 19
(4)J.C. Cooper, Der Weg des Tao, Bern München Wien, 1977, S.33.
(5)In der TCM umfasst die Phytotherapie die Behandlung mit pflanzlichen und tierischen Substanzen und Mineralien.
(6)Gezielte Erwärmung ausgewählter Akupunkturpunkte.
(7)G. Wenzel, Qi Gong – Quelle der Lebenskraft, Bad Sauerbrunn, 1996, S. 311.
(8)Leit- oder Energiebahnen, Vgl. ebenda, S. 163.
(9)Vgl.: G. Herrgott, Die Topologie der Spannung, Teil 2, Üben & Musizieren 1/93.
(10)Vgl.: W. Rüdiger, Atem und Ausdruck im Instrumentalunterricht, Üben & Musizieren 4/93.
(11)Ruhige Übungen im Sitzen, Stehen oder Liegen zur Schulung von Atmung, Konzentration, Körperwahrnehmung und Visualisierung.
(12)Diese Zungenposition wird im Qi Gong ‘Elsternbrücke‘ genannt und schließt den Meridianverlauf zwischen auf- und absteigendem Meridian kreisförmig ab – das Qi kann zirkulieren.
(13)Diese Haltung wird im Qi Gong ‘Hände auf Dan Tien‘ genannt; Frauen legen die rechte, Männer die linke Hand nach unten.
(14)Huyin = Yin-Punkt, liegt im Damm.
(15)Yongchuan = ‘sprudelnde Quelle‘ ist der Anfangspunkt des Nierenmeridians in der Mitte des vorderen Drittels der Fußsohle.
(16)G. Wenzel, Qi Gong, Bad Sauerbrunn, 1995, S. 316.
(17)Vgl.: G. Herrgott, Die Topologie der Spannungen Teil 1 und 2, Üben und Musizieren 6/92 und 1/93.
(18)Vgl.: L.V. Schoefer, Qi Gong – Hilfen für den Alltag, Niedernhausen/Ts., 1994, S. 38 f.
(19)K. Scheit, Francisco Tarrega – Sämtliche technischen Studien, Universal Edition, Wien.
(20)R. Iznaola, Kitharologus, Chanterelle, Heidelberg, 1993.
(21)A. Carlevaro, Seria Didactica para Guitarra – Cuaderno No 2, Buenos Aires.
(22)Hexiangzhuang = 6 Übungen des fliegenden Kranichs. Eine Folge von 6 in sich abgeschlossenen Einzelübungen mit komplexen, koordinierten Arm‑, Bein- und Rumpfbewegungen und Schrittarbeit.
(23)Fafanhuagong = Achtfache Rückkehr, 8 Übungen, vgl. Hexiangzhuang.
(24)Dan Tien = Energiezentrum. Wörtlich: Zinnoberfeld. Zinnober ist im Daoismus die Bezeichnung für die ´unsterbliche Essenz´. Der obere Dan Tien liegt unter dem Meridianpunkt Tianmui an der Nasenwurzel, dermittlere Dan Tien liegt unter dem Punkt Shangzhong in der Mitte der Brust auf der Höhe der Brustwarzen und der untere Dan Tien liegt unter dem Punkt Qihai etwa drei Querfinger breit unterhalb des Bauchnabels. Ein Dan Tien hat immer eine räumliche Ausdehnung im Körper, die bei entsprechender Qi Gong-Übung wahrnehmbar ist.