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Qi Gong für Musiker — lockeres Spiel durch entspanntes Sein (Gitarre & Laute, Jahrgang XXI, Heft 3/1999)

von Frank Hartmann

Wenn es um Musik und Instru­men­tal­spiel geht, ste­hen im all­ge­mei­nen die Musik, das kon­kre­te Werk, die Inter­pre­ta­ti­on und Gestal­tung durch den aus­füh­ren­den Musi­ker im Zen­trum der Betrachtungen.
Dass die­ses ‚Pro­dukt’ Musik aber End­ergeb­nis der Arbeit eines Men­schen in sei­ner Gesamt­heit ist — also geis­tig see­li­sche und phy­si­sche ‚Anstren­gung’ bedeu­tet, wird oft übergangen.

Für Zuhö­rer und Kri­ti­ker mag dies ange­hen, denn bei­de sind nur an dem End­pro­dukt inter­es­siert. Wir Musi­ker aber soll­ten uns dar­über doch bewusst Gedan­ken machen, zumal es auf Grund der andau­ern­den Musik­aus­übung in defi­nier­ten Spiel­hal­tun­gen logi­scher­wei­se zu ent­spre­chen­den kör­per­lich mani­fes­tier­ten Sym­pto­men kom­men kann — von Ver­span­nun­gen bis zu blei­ben­den Schä­den. Die­se kör­per­li­chen Mani­fes­ta­tio­nen beein­flus­sen wie­der­um den Spiel­pro­zess, z.B. in Form von man­geln­der Geläu­fig­keit bedingt durch mus­ku­lä­re Ver­span­nun­gen, und haben so auch Aus­wir­kun­gen auf unse­re Spiel- und Interpretationsfähigkeit.

Hier schließt sich ein Kreis, des­sen gan­ze Trag­wei­te den meis­ten Musi­kern nicht bewusst ist: der gestal­ten­de Musi­ker wird durch das Instru­men­tal­spiel und sein Instru­ment ‚gestal­tet’, d. h. geformt, teils bis hin zur ‚phy­si­schen Defor­ma­ti­on’ und — schlimms­ten­falls — bis zur Berufs­un­fä­hig­keit. Die­se phy­si­sche ‚For­mung’ durch das Instru­men­tal­spiel beein­flusst bzw. begrenzt unter Umstän­den wie­der­um die musi­ka­li­schen Gestal­tungs­mög­lich­kei­ten. Als Bei­spie­le für ‚phy­si­sche Defor­ma­tio­nen’ sei­en hier genannt Tin­i­tus und Schwer­hö­rig­keit bei Orches­ter­mu­si­kern, Hals­wir­bel­säu­len­syn­drom bei Strei­chern oder Sym­pto­me im Len­den­wir­bel­be­reich bei Gitar­ris­ten — von Rücken­schmer­zen bis hin zu Bandscheibenschäden.

Dass ‚musi­ka­li­sche Arbeit’ in der Öffent­lich­keit — sozu­sa­gen auf dem Prä­sen­tier­tel­ler — bei Kon­zer­ten, Vor­spie­len, in Prü­fun­gen, etc. Stress erzeugt, ist für alle Aus­üben­den durch­aus nor­mal und ihnen auch bewusst . Die Band­brei­te der zur Abhil­fe emp­foh­le­nen Stra­te­gien reicht von Haus­mit­teln bis zum Auto­ge­nen Training.
Weni­ger bewusst ist den Musi­kern im all­ge­mei­nen die Bedeu­tung der Atmung und des bewuss­ten Ein­sat­zes von Atem­tech­ni­ken zur musi­ka­li­schen Gestal­tung und Ver­bes­se­rung der Spiel­tech­nik. Eine Aus­nah­me bil­den hier natur­ge­mäß Sän­ger und Blä­ser, da bei bei­den die Ton­erzeu­gung direkt von der Atmung abhän­gig ist.

Die bis­her im Zusam­men­hang mit den auf­ge­zeig­ten The­men­be­rei­chen prak­ti­zier­ten Atem und Kör­per­übungs­sys­te­me bie­ten nur Lösungs­an­sät­ze für jeweils einen der vor­ge­nann­ten Pro­blem­be­rei­che und wer­den mehr oder weni­ger getrennt vom Instru­men­tal­spiel ange­wandt — der Trans­fer in die Spiel­pra­xis ist mit­un­ter schwierig.
Hier bie­tet sich in der alten chi­ne­si­schen Kunst des Qi Gong ein um fas­sen­des und seit Jahr­hun­der­ten gereif­tes und erprob­tes Heil­sys­tem, das Lösungs­an­sät­ze für alle vor­ge­nann­ten Teil­be­rei­che ein­schließt, in das Instru­men­tal­spiel inte­grier­bar ist und dar­über hin­aus inter- essan­te neue Ansät­ze zur Lösung spiel­tech­ni­scher Pro­ble­me bietet.

Qi Gong als Ver­fah­ren der ‚Tra­di­tio­nel­len chi­ne­si­schen Medizin’ 

Die tra­di­tio­nel­le chi­ne­si­sche Medi­zin (TCM) hat einen grund­sätz­lich völ­lig ande­ren Ansatz als die west­li­che Medi­zin. Sie ist dabei aber als eigen­stän­di­ges Sys­tem in sich genau­so logisch, kon­se­quent und sys­te­ma­tisch — also wis­sen­schaft­lich -, wie die west­li­che Medi­zin und dabei sehr erfolgreich.
Wäh­rend der west­li­che Arzt auf Grund von Sym­pto­men nach einer kon­kre­ten Krank­heits­ur­sa­che sucht, sieht der chi­ne­si­sche Arzt die vor­lie­gen­den Sym­pto­me als einen Teil­aspekt die­ses spe­zi­el­len Pati­en­ten, der ein kom­ple­xes und ein­zig­ar­ti­ges phy­sio­lo­gi­sches und psy­cho­lo­gi­sches Sys­tem mit Regel­krei­sen und Rück­kop­pe­lun­gen darstellt(1). Die­ses Sys­tem ver­sucht der chi­ne­si­sche Arzt regu­lie­rend in ein ‚indi­vi­du­el­les’ Gleich­ge­wicht zu brin­gen. J. Kaptchuck schreibt dazu: „Die chi­ne­si­sche Medi­zin ist des­halb eine holis­ti­sche (ganz­heit­li­che) Metho­de — begrün­det auf der Idee, dass jedes Ele­ment nur in sei­ner Rela­ti­on zum Gan­zen ver­stan­den wer­den kann…Diese Medi­zin ist nicht weni­ger logisch als die west­li­che, son­dern weni­ger analytisch.(2)“
Der Ansatz jeder The­ra­pie in der TCM ist die Wie­der­her­stel­lung des Gleich­ge­wichts in dem kom­ple­xen Sys­tem Mensch ein­schließ­lich sei­ner Bezie­hun­gen zu sei­nem Umfeld — der Aus­gleich zwi­schen Yin und Yang. Yin und Yang als „…kom­ple­men­tä­re Gegen­sät­ze stel­len weder Kräf­te noch mate­ri­el­le Wesen­hei­ten und auch kei­ne mythi­schen Kon­zep­te dar, … Viel­mehr müs­sen sie als nütz­li­che Bezeich­nun­gen betrach­tet wer den, die der Beschrei­bung der Bezie­hun­gen der Din­ge zuein­an­der und zum Uni­ver­sum dienen.(3)“ Nach J. C. Coo­per sym­bo­li­siert das Yin-Yang „… jede paar­wei­se Exis­tenz, …, doch kann man die bei­den nicht als Gege­ben­hei­ten oder Ein­heit betrach­ten, son­dern nur als Eigen­schaf­ten, die allen Din­gen innewohnen.(4)“ In der TCM wird zur Wie­der­her­stel­lung des Gleich­ge­wichts von Yin und Yang neben Phytotherapie(5), Moxatherapie(6), Aku­punk­tur und Aku­pres­sur auch Qi Gong the­ra­peu­tisch eingesetzt.

Qi Gong wird des öfte­ren etwas ver­ein­fa­chend mit „Atem­heil­gym­nas­tik“ über­setzt und ist prä­ven­ti­ver Bestand­teil der tra­di­tio­nel­len chi­ne­si­schen Medi­zin. Es ver­bin­det Atmung, locker flie­ßen­de Bewe­gun­gen, Deh­nun­gen, Kon­zen­tra­ti­on auf ver­schie­de­ne Meri­dia­ne bzw. Aku­punk­tur punk­te und Medi­ta­ti­on zu einem ganz­heit­li­chen und in den Grund­zü­gen leicht erlern­ba­ren Gesund­heits­sys­tem. Der Begriff Qi Gong bedeu­tet wört­lich über­setzt in etwa „Arbei­ten am/mit Qi“(7), wobei Qi man­gels eines der umfas­sen­den chi­ne­si­schen Bedeu­tung adäqua­ten Wor­tes mit Ener­gie, Atem bzw. Lebens­kraft über­setzt wird. Nach der Theo­rie des Qi Gong ist die Vor­aus­set­zung für Gesund­heit und Vita­li­tät, dass das Qi durch alle Meridiane(8) frei und unge­hin­dert flie­ßen kann. Fließt das Qi unge­hin­dert, tritt u.a. eine erhöh­te Sen­si­bi­li­tät und Kör­per­wahr­neh­mung ein, auf die auch G. Herr­gott im Zusam­men­hang mit kin­äs­the­ti­schen Übun­gen hinweist(9).
Vor­aus­set­zung für das unge­hin­der­te Zir­ku­lie­ren des Qi ist, dass sich alle Gelen­ke locker in ihrer natür­li­chen Posi­ti­on befin­den, sich im Rah­men ihres natür­li­chen Bewe­gungs­po­ten­ti­als frei bewe­gen kön­nen und der Gesamt­to­nus in Mus­ku­la­tur und Gewe­be bei kor­rek­ter Kör­per­hal­tung so nied­rig wie mög­lich ist.

Eines der Grund­prin­zi­pi­en des Qi Gong — der Atem folgt der Auf­merk­sam­keit und führt die Bewe­gun­gen ist der Ansatz­punkt zur Über­tra­gung der Qi Gong Übun­gen und Prin­zi­pi­en auf den Musikeralltag.

Ansatz­punk­te und Ein­satz von Qi Gong in der instru­men­ta­len Praxis 

Beim aus­üben­den Musi­ker — egal ob Pro­fi oder Laie — sind in der
Spiel­pra­xis vier grund­le­gen­de The­men­be­rei­che von entscheidender
Bedeutung:
· Atem und musi­ka­li­sche Gestaltung
· Stressprävention
· mus­ku­lä­re Span­nun­gen und Spieltechnik
· phy­si­sche Belas­tun­gen durch die Spielhaltung

Die­se vier The­men­kom­ple­xe sol­len im fol­gen­den unter dem Blick­win­kel des Qi Gong näher unter­sucht werden.

Atem und musi­ka­li­sche Gestaltung 

Atem und musi­ka­li­scher Aus­druck sind untrenn­bar mit­ein­an­der ver­bun- den — der Atem­strom formt bzw. trägt die musi­ka­li­sche Bewe­gung und Entwicklung(10). Dies gilt selbst­ver­ständ­lich nicht nur für Gesang und Blasinstrumente.

Über den bewuss­ten Atem ist es — mit eini­ger Übung — mög­lich, Puls- und Herz­fre­quenz zu regu­lie­ren. Atem‑, Puls- und Herz­fre­quenz hän­gen von­ein­an­der ab und sind qua­si das Bio- Metrum des Musi­kers — unser gesam­tes Tem­po- und Rhyth­mus­emp­fin­den bezieht sich auf die­se Grö­ßen, da sie den Rhyth­mus und das Tem­po, qua­si den ‚Arbeits­takt’ der musi­zie­ren­den ‚Bio Maschi­ne Mensch’ bestim­men. Der Ver­such, mit rasen­dem Puls ein ein­fa­ches Stück wie ‚Lagri­ma’ von F. Tar­re­ga bewusst lang­sam, dol­ce und can­ta­bi­le zu gestal­ten, ist von vorn­her­ein zum Schei­tern ver­ur­teilt. Der Atem fun­giert dar­über hin­aus sowohl im Ein­zel­spiel als auch im Ensem­ble als ele­men­ta­rer rhyth­mi­scher Ein­satz­im­puls und als Gestal­tungs­mit­tel für Über­gän­ge, Tem­po­wech­sel, Abphra­sie­run­gen und Schluss­wen­dun­gen — ja für die gesam­te ago­gi­sche Gestal­tung eines Werkes.

Durch Atem­übun­gen im stil­len Qi Gong(11) wer­den einer­seits Atmung als sol­che und ande­rer­seits die bewuss­te Steu­er­bar­keit der Atmung erfahr­bar gemacht. Eine Grund­übung sei hier kurz vorgestellt:
Der üben­de liegt ent­spannt und gera­de auf dem Rücken — mög­lichst auf einer Decke auf dem Boden. Die Arme lie­gen locker seit­lich ent­lang des Kör­pers aus­ge­streckt, die Han­din­nen­flä­chen sind nach unten gerich­tet und Dau­men und Zei­ge­fin­ger for­men ent­spannt einen Kreis.

In die­ser Hal­tung wird zunächst nur ganz ent­spannt durch die Nase ein- und aus­ge­at­met — die Zun­gen­spit­ze ruht locker hin­ter den obe­ren Schnei­de­zäh­nen am Gaumen(12). Nach und nach wird die Kon­zen­tra­ti­on auf das Heben und Sen­ken der Bauch­de­cke beim Ein- und Aus­strö­men las­sen der Atem­luft gerich­tet. Even­tu­ell kön­nen am Anfang bei­de Hän­de über ein­an­der auf den Bauch gelegt wer­den, die Dau­men­bal­len lie­gen dabei auf dem Bauchnabel(13)- dies erleich­tert die Kon­zen­tra­ti­on auf die Bewe­gung der Bauch­de­cke. Ziel der Übung ist die tie­fe Bauch­at­mung, d.h. die Lun­ge füllt und leert sich von unten nach oben. Durch Visua­li­sie­run­gen — wie ein- und aus­strö­men las­sen, den Atem bewusst durch Nase und Kopf an der Wir­bel­säu­le ent­lang nach unten bis in das Becken ein- und an Bauch­de­cke, Brust­bein und Hals­vor­der­sei­te ent­lang nach oben durch die Nase aus­strö­men las­sen — kann die Übung ent­schei­dend inten­si­viert wer­den. Um eine Hyper­ven­ti­la­ti­on zu ver­mei­den, muss immer die Aus­at­mung betont wer­den. Bei län­ger andau­ern­der Übung mit Visua­li­sie­rung soll­te der Becken­bo­den leicht ange­spannt wer­den, um den Meri­di­an­punkt Huyin(14)zu schlie­ßen und so Ener­gie­ver­lust zu vermeiden.

Bei ent­spre­chen­der Übung kön­nen die­se Atem­übun­gen mit Visua­li­sie­rung auch als Spiel­vor­be­rei­tung in der Instru­men­tal­hal­tung durch­ge­führt werden.

Stress­prä­ven­ti­on

Die nerv­li­che Anspan­nung, der Stress vor und wäh­rend des musi­ka­li­schen Vor­trags, egal ob Schü­ler­vor­spiel, Prü­fung oder öffent­li­ches Kon­zert, ist immens. Der Fak­tor Stress zer­fällt zunächst in zwei Teil berei­che — psy­chi­schen und phy­si­schen Stress — , die sich gegen­sei­tig beein­flus­sen und zum Teil sogar bedin­gen, hier aber trotz­dem ein­mal getrennt dar­ge­stellt und betrach­tet wer­den sol­len. Im psy­cho­lo­gi­schen Bereich spie­len Erwar­tungs­hal­tun­gen — eige­ne und die ande­rer (Publi­kum, Arbeit­ge­ber, etc.) — , dar­aus resul­tie­ren­der Erfolgs­druck, aber auch Rah­men­be­din­gun­gen (Räum­lich­kei­ten, eige­ne Fit­ness, etc.) und die indi­vi­du­el­le psy­chi­sche Dis­po­si­ti­on des Ein­zel­nen eine sehr gro­ße Rolle.

Im phy­sio­lo­gi­schen Bereich han­delt es sich gewis­ser­ma­ßen um das Flucht oder Kampf­pro­gramm, das wir evo­lu­ti­ons­be­dingt von unse­ren Vor­fah­ren geerbt haben. Dies sind instink­ti­ve Ver­hal­tens­wei­sen, die je nach unse­rer Ein­schät­zung der Situa­ti­on mehr oder weni­ger zum Tra­gen kom­men und sich unse­rer direk­ten wil­lent­li­chen Beein­flus­sung ent­zie­hen. In bedroh­li­chen Situa­tio­nen — vor Urzei­ten der Angriff eines Tigers auf einen unse­rer Vor­fah­ren, heu­te viel­leicht ein Vor­spiel, Kon­zert, etc. — schüt­tet unser Kör­per auf Grund die­ses uralten Über­le­bens­pro­gram­mes das Stress­hor­mon Adre­na­lin aus. Die Auf­ga­be des Adre­na­lins ist es, eine bes­se­re Ener­gie­ver­sor­gung der Mus­keln sicher­zu­stel­len, die Sin­nes­wahr­neh­mung zu ver­bes­sern, etc., um den Kör­per auf die bevor ste­hen­de phy­si­sche Höchst­leis­tung vor­zu­be­rei­ten. Der Kör­per reagiert ent­spre­chend: Herz- , Puls- , Atem­fre­quenz und damit auch der Blut­druck stei­gen ( Hit­ze­emp­fin­dun­gen und Schweiß­aus­brü­che inbe­grif­fen), der Mus­kel­to­nus steigt (Kloß im Hals, kal­te Hän­de wegen schlech­te­rer Durch­blu­tung), das Blut wird aus dem Magen abge­zo­gen (Übel­keit), und man sieht und hört bis zum Pro­gramm­ra­scheln in der letz­ten Rei­he des Saals.
Betrach­tet man Stress unter dem Aspekt der Yin-Yang — Theo­rie, so er gibt sich fol­gen­des Bild:

yin-yang

Sind Yin und Yang im Gleich­ge­wicht, herrscht Ruhe — über­wiegt Yang oder ist Yin zu schwach, herrscht psy­chi­scher und/oder phy­si­scher Stress.

Wenn man in Betracht zieht, dass Atem‑, Herz- und Puls­fre­quenz syn­chron lau­fen, ergibt sich allein durch die im vor­he­ri­gen Kapi­tel beschrie­be­ne Visua­li­sie­rung der Atmung eine Ver­lang­sa­mung der Atmung und damit des gesam­ten Bio­rhyth­mus und eine Kon­zen­tra­ti­ons­än­de­rung von außen (Publi­kum, etc.) nach innen (Atmung) — eine zwei­fa­che Ände­rung vom Yang zum Yin, von Stress hin zur Ruhe und Gelassenheit.

Fort­ge­schrit­te­ner, aber auch wesent­lich effek­ti­ver, ist der so genann­te gro­ße Atem­kreis­lauf. Begin­nen soll­te man mit die­ser Übung aller­dings erst, wenn die Bauch­at­mung beherrscht wird. Ein­lei­tend wird die im vori­gen Kapi­tel erklär­te Übung aus­ge­führt – ent­spann­te Rücken­la­ge, Zun­ge ruht ent­spannt hin­ter den obe­ren Schnei­de­zäh­nen, Becken­bo­den leicht ange­spannt, Atmung wie beschrie­ben durch Visua­li­sie­rung steu­ern. Nun wird als nächs­ter Schritt beim Ein­at­men die
Auf­merk­sam­keit von dem Punkt Yongchuan(15) im Vor­fuß über die Innen­sei­te der Bei­ne und an der Wir­bel­säu­le ent­lang nach oben bis zum Schei­tel­punkt Bai­hui geführt. Beim Aus­at­men ver­läuft der Kon­zen­tra­ti­ons­ver­lauf über die Mit­tel­li­nie von Stirn — Gesicht — Hals — Brust — Bauch und die Rück­sei­te der Bei­ne hin­un­ter zurück zu dem Punkt Yongchu­an. Die Atmung soll­te immer locker und unge­zwun­gen sein — even­tu­ell den gesam­ten Kon­zen­tra­ti­ons­ver­lauf auf meh­re­re Atem­zü­ge ver­tei­len. Die Aus­at­mung wird betont aus­ge­führt — dies ist beson­ders bei Blut­hoch­druck wichtig.
Bei der ver­ein­fach­ten Vari­an­te kon­zen­triert man sich nur auf Yongchu­an und atmet qua­si durch die­sen Punkt ein und aus.

Noch ein­mal eine kur­ze theo­re­ti­sche Ergän­zung zur Stress­kom­pen­sa­ti­on mit Qi Gong Tech­ni­ken, um die Funk­ti­ons­wei­se deut­li­cher zu machen:
Wo der Geist (das Bewusst sein) Shen ist, ist Qi, denn „…, der Geist ist der Meis­ter des Qi.(16)“ Ist der Geist außen (beim Publi­kum, zer- streut), ist auch das Qi — die Ener­gie — außen, also nicht kon­zen­triert und nicht nutz­bar. Ist der Geist Shen in den Kör­per gerich­tet, so ist das Qi im Kör­per und ist Shen auf den Kopf gerich­tet, steigt das Qi dort­hin. Die Fol­gen sind Unkon­zen­triert­heit und ein Abschwei­fen der Gedan­ken, eine Art ‚inne­re Talk­show’, da Shen aus­schließ­lich auf die geis­ti­gen Vor­gän­ge gerich­tet ist, und die­se daher mit einem Über­maß der Ener­gie Qi ver­sorgt ein schwer kon­trol­lier­ba­res ‚Eigen­le­ben’ ent­wi­ckeln. Das Qi muss dort­hin, wo wäh­rend des Instru­men­tal­spiels die Ener­gie benö­tigt wird — es muss also abge­senkt wer­den. Das Yang-Qi (Akti­vi­tät) wird daher beim Aus­at­men über den Kon­zen­tra­ti­ons­ver­lauf an der Kör­per­vor­der­sei­te und der Rück­sei­te der Bei­ne ent­lang nach unten gebracht. Beim Ein­at­men wird Yin-Qi (Ruhe) auf der Innen­sei­te der Bei­ne und der Kör­per­rück­sei­te nach oben geholt, um den Yang-Über­schuss aus­zu­glei­chen. Die Stress­be­ding­te Kopf­las­tig­keit wird so aus­ge­gli­chen, der Ener­gie­fluss wie­der­her­ge­stellt und so eine opti­ma­le Aus­gangs­si­tua­ti­on für das Vor­spie­len erreicht.

Mus­ku­lä­re Span­nun­gen und Spieltechnik 

Mus­ku­lä­re Span­nun­gen und ihre Aus­wir­kun­gen auf den Bewe­gungs­fluss beim Instru­men­tal­spiel sind hin­läng­lich bekannt(17) — Locker­heit ist die Vor­aus­set­zung für eine sou­ve­rä­ne Spiel­tech­nik. Ande­rer­seits kann schon eine gering­fü­gi­ge, unter Umstän­den auch ört­lich begrenz­te Stei­ge­rung des Mus­kel­to­nus ver­krampf­tes und unko­or­di­nier­tes Spiel ver­ur­sa­chen. Dies gilt bei der Spiel­tech­nik der Gitar­re selbst­ver­ständ­lich für bei­de Hände.

Im Bereich der Spiel­tech­nik der lin­ken Hand sol­len die Stich­wor­te Akkord­wech­sel — schnel­les Melo­die­spiel — Lagen­wech­sel – Über­stre­ckun­gen jed­we­der Art genügen.
Betrach­tet man die rech­te Hand, dür­fen neben der rei­nen Geläu­fig­keit natür­lich Ton­kon­trol­le, Klang­re­gis­ter und jede Form der Arti­ku­la­ti­on nicht ver­ges­sen wer­den. Letzt­lich ent­schei­det die rech­te Hand über die ton­li­chen Qua­li­tä­ten der Musik, und der Ton in sei­ner Musi­ka­lisch-ästhe­ti­schen Sub­stanz erschließt oder ver­schließt dem Zuhö­rer das gespiel­te Werk.

Auch das Zusam­men­spiel bei­der Hän­de — die Koor­di­na­ti­on zwi­schen rechts und links — und damit das musi­ka­li­sche Lega­to­spiel ist, wie oben schon erwähnt, in hohem Maß vom Mus­kel­to­nus abhängig.

In unbe­weg­tem Zustand sind die Fin­ger leicht nach innen gekrümmt, die Mus­keln — Beu­ger und Stre­cker — befin­den sich in einem ‚Span­nungs­gleich­ge­wicht, der ‚Ruhe­span­nung’ oder ‚Vor­span­nung’. Ein wei­te­res Krüm­men eines Gelen­kes erfor­dert ent­we­der eine höhe­re Anspan­nung des betref­fen­den Beu­gers, eine höhe­re Ent­span­nung — also Deh­nung — des Stre­ckers oder eine Kom­bi­na­ti­on aus bei­den mus­ku­lä­ren Prozessen.

Alle drei Bewe­gungs­an­sät­ze sind bei gerin­ge­rer ‚Vor­span­nung’ leich­ter zu rea­li­sie­ren. Dies führt zu schnel­le­ren, prä­zi­se­ren Bewe­gun­gen, die auch exak­ter ‚getimet’ und damit bes­ser koor­di­niert wer­den können.

Wie im Kapi­tel über Qi Gong als Ver­fah­ren der TCM dar­ge­legt, ist eines der grund­le­gen­den Zie­le des Qi Gong die Mini­mie­rung des Gesamt­to­nus, der ‚Vor­span­nung’ der Mus­ku­la­tur bei kor­rek­ter Kör­per­hal­tung und frei­er Beweg­lich­keit der Gelen­ke. Das Bewe­gungs­prin­zip des Qi Gong zur Errei­chung die­ser Ziel­set­zung — der bewuss­te Atem trägt den wei­chen Fluss der Bewe­gun­gen — kann über das Bin­de­glied Atmung in das Instru­men­tal­spiel über­tra­gen wer­den. Dies ist gera­de bei spiel- tech­ni­schen Pro­blem­stel­len, z.B. Deh­nun­gen im Grenz­be­reich des ana­to­misch Mög­li­chen, sehr gut anwend­bar und führt nach mei­ner Erfah­rung zu einer wesent­lich ent­spann­te­ren Bewäl­ti­gung der­ar­ti­ger Passagen.
Bevor wir die Anwen­dung an kon­kre­ten spiel­tech­ni­schen Bei­spie­len betrach­ten, sol­len eini­ge Grund­übun­gen des Qi Gong zu die­sem The­ma er läu­tert werden.

Hier eig­net sich vor allem die Übung des ‚Fingeratmens(18) ’, die jeden ein­zel­nen Fin­ger bewusst anspricht. Die­se Übung kann in etwas ver­ein­fach­ter Form in die Spiel­hal­tung über­tra­gen wer den:
In der nor­ma­len Spiel­hal­tung sit­zend, bei­de Arme und Hän­de locker seit­lich am Kör­per hän­gen las­sen und ‚durch die Fin­ger’ wie folgt ein- und ausatmen:
Bei­de Dau­men leicht krüm­men — ein­at­men, ent­span­nen und durch die Dau­men aus­at­men; bei­de Zei­ge­fin­ger leicht krüm­men — ein­at­men, ent­span­nen und durch Dau­men und Zei­ge­fin­ger aus­at­men; usw.

Die Kon­zen­tra­ti­on liegt beim Ein­at­men immer bei einem Fin­ger­paar, beim Aus­at­men bei allen schon ‚geat­me­ten’ Fin­ger­paa­ren. Visua­li­siert wird die Vor­stel­lung von ‚Luft­schläu­chen’, die in dem jewei­li­gen Fin­ger begin­nen bzw. enden und sie mit der Lun­ge ver­bin­den — es wird in der Vor­stel­lung qua­si durch den/die Fin­ger ein- bzw. ausgeatmet.

In den kon­kre­ten spiel­tech­ni­schen Anwen­dun­gen bedeu­tet ein­at­men immer die Vor­be­rei­tung und aus­at­men die Umset­zung der Bewe­gung. Ein­at­men heißt Ener­gie (Luft) auf­neh­men und führt über die Aus­deh­nung der Lun­ge zur Deh­nung des Ober­kör­pers und damit zu einer erhöh­ten ‚Vor­span­nung’ im Mus­kel­ge­we­be. Aus­at­men ent­spricht also der Ent­span­nung, dem ‚Zusam­men­sin­ken’. Da Bewe­gun­gen — wie oben dar­ge­legt — bei gerin­ge­rer ‚Vor­span­nung’ locke­rer zu rea­li­sie­ren sind, wird kon­se­quen­ter­wei­se im Aus­at­men geübt und gespielt.
Das Heben des Fingersausholen/vorbereiten) wird mit dem Ein­at­men, das Sen­ken (greifen/ anschla­gen) mit dem Aus­at­men ver­bun­den. Als Aus­nah­men sei­en hier z.B. Abzugs­bin­dun­gen genannt: ein­at­men = wahr­neh­men des gegrif­fe­nen Fin­gers, aus­at­men = abziehen.

Eine sehr kla­re Über­tra­gung die­ser Bewe­gungs­prin­zi­pi­en ergibt sich z.B. bei spiel­tech­ni­schen Übun­gen, wie Nr. 16 (Auf­schlags­bin­dung) und Nr. 21 (Abzugs­bin­dung) aus F. Tar­re­gas ‚Tech­ni­schen Studien’(19).

Beispiele 1_2_3

Auch Bin­de­übun­gen und Akkord­an­schlags­übun­gen aus R. Iznao­las‚ Kitharologus(20)’ oder Akkord­zer­le­gungs­stu­di­en von A. Carlevaro(21) können
bei­spiel­haft her­an­ge­zo­gen wer­den. Bei Deh­nun­gen bzw. Überstreckungen
ent­spricht das Ein­at­men dem bewuss­ten Füh­len bzw. Wahr­neh­men der zu
bewe­gen­den Fin­ger, das Aus­at­men der Deh­nung. Als Bei­spiel sei hier auf die Dehn­übun­gen in R. Iznao­las ‚Kit­ha­ro­lo­gus’ ver­wie­sen (z.B. Nr.98).

Der Trans­fer des Qi Gong — Prin­zips ‚Atem führt Bewe­gung’ ist bei den genann­ten Bei­spie­len, unab­hän­gig von der spiel­tech­ni­schen Schwie­rig­keit, rela­tiv ein­fach umzu­set­zen, da es sich um Übun­gen mit gleich­blei­ben­den Bewe­gungs­ab­läu­fen der lin­ken oder rech­ten Hand handelt.
Die Auf­merk­sam­keit bleibt also bei einer Hand und es ver­bleibt genü­gend Kon­zen­tra­ti­on für den bewuss­ten Ein­satz der Atem­tech­nik. Selbst- ver­ständ­lich kön­nen auch ande­re ‚ein­sei­ti­ge’ Übun­gen her­an­ge­zo­gen werden.

Als Bei­spie­le von Deh­nun­gen aus der Vor­trags­li­te­ra­tur sei­en hier noch Aus­schnit­te aus J.S. Bachs Prä­lu­di­um d Moll, BWV 999 und F. Sors Sona­te op 25 erwähnt.
In dem Prä­lu­di­um von Bach muss in Takt 15 der Ton f im Bass auf der 6. Sai­te mit dem 1. Fin­ger gehal­ten wer­den, wäh­rend der klei­ne Fin­ger einen Bar­ré über 1., 2. und 3. Sai­te im 5. Bund greift. Es soll­te vor dem Takt ein und in die Deh­nung hin­ein aus­ge­at­met werden.

Beispiel_5

Im ers­ten Satz ‚Andan­te’ der Sona­te op 25 von Sor erscheint in Takt 29/30 eine Figur, in der der 1. Fin­ger im 3. Bund als Bar­ré liegt, der 3. Fin­ger den Ton a auf der 4. Sai­te spie­len muss und im Takt 30 der 4. Fin­ger die Ton­fol­ge es-e‑f auf der 5. Sai­te abgrei­fen muss . Auch die­se Über­stre­ckung ist im Aus­at­men wesent­lich leich­ter zu bewältigen.

Eini­ge der Qi Gong Übun­gen — wie z.B. spe­zi­el­le Hand­ge­lenks- und Fin­ger­deh­nun­gen oder die 6 Übun­gen der Arm­me­ri­dia­ne — eig­nen sich zu dem her­vor­ra­gend als ‚Auf­wärm­übun­gen’ zur Spiel­vor­be­rei­tung. Spe­zi­ell die Übun­gen der Arm­me­ri­dia­ne wir­ken sehr ent­span­nend und sen­si­bi­li­sie­rend im Hand‑, Arm‑, Schul­ter- bzw. Brust und Nacken­be­reich, da die­se Meri­dia­ne in den ein­zel­nen Fin­gern begin­nen bzw. enden und im Ver­lauf über Arm­vor­der- bzw. ‑rück­sei­te und Schul­tern die Kopf- bzw. Brust­re­gi­on erschlie­ßen. Die­se Übun­gen regen spe­zi­ell in den Arm­me­ri­dia­nen den Fluss des Qi an und füh­ren so zu einer erheb­li­chen Ent­span­nung und Sen­si­bi­li­sie­rung in die­sen gera­de für Musi­ker wich­ti­gen Bereichen.

Phy­si­sche Belas­tung durch die Spielhaltung 

Hier soll nun die ein­sei­ti­ge Belas­tung des Bewe­gungs­ap­pa­ra­tes durch die Instru­men­tal­hal­tung beim Üben und Spie­len sowie die Prä­ven­ti­on dar­aus resul­tie­ren­der Fol­ge­schä­den näher betrach­tet wer­den — der Gesund­heits­aspekt wird lei­der meist viel zu wenig beachtet.

Die mensch­li­che Ana­to­mie ist grund­sätz­lich sym­me­trisch ange­legt — sowohl im Bezug auf die Struk­tu­ren (2 Arme, 2 Bei­ne, etc.) als auch im Bezug auf die Bewe­gungs­rich­tun­gen (Bewe­gung und Gegen­be­we­gung, Mus­kel und Ant­ago­nist — z. B. Bizeps und Tri­zeps). Die­se Fest­stel­lung ist zwar tri­vi­al, wird aber im all­täg­li­chen Leben und gera­de auch bei der Instru­men­tal­hal­tung geflis­sent­lich igno­riert — teils aus Bequem­lich­keit, teils aus Not­wen­dig­keit. Der Schluss, der aus die­ser schein­bar bana­len Fest­stel­lung gezo­gen wer­den muss , heißt aber: jede län­ger andau­ern­de, ein­sei­ti­ge Belas­tung des Bewe­gungs­ap­pa­ra­tes durch sta­ti­sche Kör­per­hal­tung ist sys­tem­fremd und damit mehr oder weni­ger gesund­heits­schäd­lich. Das Para­do­xe liegt schon dar­in, dass der Bewe­gungs­ap­pa­rat (dyna­misch) eine Spiel­hal­tung (sta­tisch) rea­li­sie­ren soll. Die Fol­gen bei vie­len Gitar­ris­tIn­nen sind Fehl­hal­tun­gen und Ver­span­nun­gen im Nacken‑, Hals- und Schul­ter­be­reich, Seh­nen­schei­den­ent­zün­dun­gen und Beschwer­den im Len­den­wir­bel­be­reich bis hin zu Schä­den an Band­schei­ben und Wirbelkörper.

Qi Gong beinhal­tet eine sehr gro­ße Viel­falt an Kör­per­übun­gen, um das oben bereits unter der Über­schrift ‚Qi Gong als Ver­fah­ren der TCM’ beschrie­be­ne Ziel einer mög­lichst locke­ren und natür­li­chen Kör­per­hal­tung zu errei­chen. Das Reper­toire reicht von ein­fa­chen Dehn­übun­gen bis zu kom­ple­xen Bewe­gungs­ab­läu­fen, wie z. B. die Bewe­gungs­zy­klen Hexiangzhuang(22) oder Fafanhuagong(23). Allen Übun­gen ist das unter dem Kapi­tel ‚Qi Gong als Ver­fah­ren der TCM’ genann­te Grund­prin­zip ‚Auf­merk­sam­keit — Atem — Bewe­gung’ gemein­sam. Die­se Übun­gen eig­nen sich sehr gut und gezielt zur Hal­tungs­kor­rek­tur bzw. zum Aus­gleich ein­sei­ti­ger Belastungen.

Als Bei­spiel sei hier kurz eine ein­fa­che Grund­übung — ‚Qi heben und sen­ken’ — näher betrachtet:
Zunächst wird die Grund­hal­tung im Ste­hen ein­ge­nom­men, d. h. die Füße ste­hen schul­ter­breit — Außen­kan­ten par­al­lel, die Knie sind leicht gebeugt und die Leis­ten bewusst ent­spannt. Die Wir­bel­säu­le wird bewusst gera­de auf­ge­rich­tet und der Schei­tel wie von einem Faden nach oben gezo­gen. Man steht, als säße man mit gera­de auf­ge­rich­te­tem Ober­kör­per auf der Vor­der­kan­te eines hohen Hockers. Die Arme hän­gen locker seit­lich her­ab — Hand­flä­chen zum Kör­per gedreht und das Kinn ist etwas eingezogen.

Ist die kor­rek­te Hal­tung ein­ge­nom­men und bewusst Schritt für Schritt noch ein­mal nach­ge­spürt wor­den, wird durch bewuss­tes Anspan­nen und Ent­span­nen eine ‚Span­nungs­wel­le’ im Kör­per erzeugt. Zuerst wer­den die Füße etwas ange­spannt (mit den Zehen in den Boden ‚kral­len’), dann steigt die Span­nungs­wel­le über Unter­schen­kel, Knie (etwas stre­cken), Becken­bo­den, Wir­bel­säu­le (stre­cken) bis zum Schei­tel. Die Ent­span­nung erfolgt in umge­kehr­ter Rei­hen­fol­ge von oben nach unten zurück zu den Füßen. Die­ses bewuss­te Anspan­nen und Ent­span­nen erfolgt syn­chron mit der unter dem Kapi­tel ‚Stress­prä­ven­ti­on’ beschrie­be­nen Kreis­lauf­at­mung. Mit dem Ein­at­men stei­gen Span­nungs- und Kon­zen­tra­ti­ons­ver­lauf in den Füßen begin­nend nach oben bis zum Schei­tel, mit dem Aus­at­men sin­ken Ent­span­nungs- und Kon­zen­tra­ti­ons­ver­lauf vom Schei­tel zurück zu den Füßen.

Ist die­se Ver­bin­dung von Atmung, Kon­zen­tra­ti­on und Span­nungs­wel­le ver­in­ner­licht, wird sie mit dem eigent­li­chen ‚Qi heben und sen­ken’ der Arme ver­bun­den. Mit dem Stei­gen der Span­nungs­wel­le und der Kreis­lauf­at­mung wer­den die Arme locker seit­lich vom Kör­per geho­ben (Hand flä­chen zei­gen nach oben) bis sich die Fin­ger­spit­zen über dem Kopf fast berüh­ren (Hand­flä­chen nach unten). Die­se Posi­ti­on ist erreicht, wenn der Span­nungs- und Kon­zen­tra­ti­ons­ver­lauf im Schei­tel ange­kom­men ist.
Mit dem Sin­ken von Span­nungs­wel­le und Kreis­lauf­at­mung sin­ken auch die Hän­de vor dem Kör­per nach unten (Hand­flä­chen nach unten) und zurück zur Sei­te in die Aus­gangs­po­si­ti­on (Hand­flä­chen zum Kör­per), und errei­chen die­se mit dem Ende von Span­nungs­wel­le und Kon­zen­tra­ti­ons­ver­lauf in den Füßen.

Die­se Übung kann mehr­mals wie­der­holt wer­den, soll­te aber immer mit einer Abschluss­übung been­det wer­den. Sehr geeig­net erscheint mir hier das ‚Krei­sen um Dan Tien(24)’. Dazu wer­den die Hän­de mit den Hand­flä­chen über­ein­an­der auf den Unter­bauch gelegt, der Dau­men­bal­len der unte­ren Hand liegt auf dem Bauch­na­bel. Bei Frau­en liegt die rech­te Hand am Kör­per, bei Män­nern die lin­ke. In die­ser Stel­lung eini­ge Male lang­sam und tief atmen, dann in Rich­tung des außen-lie­gen­den Dau­mens nach unten krei­send begin­nen und 9 grö­ßer wer­den­de Krei­se bis zu den Rip­pen­bö­gen beschrei­ben. Anschlie­ßend fol­gen 6 klei­ner wer­den­de Krei­se in ent­ge­gen­ge­setz­ter Rich­tung zurück zur Aus­gangs­po­si­ti­on. Mit eini­gen ruhi­gen Atem­zü­gen ist die­se Übung beendet.

Schon am Bei­spiel die­ser ein­fa­chen Grund­übung ist deut­lich erkenn­bar, dass bei Qi Gong- Übun­gen immer der gan­ze Kör­per ein­be­zo­gen ist. Durch die Auf­rich­tung der Wir­bel­säu­le wird spe­zi­ell der Len­den­wir­bel­be­reich und die Hals­wir­bel­säu­le gedehnt und ent­las­tet, die seit­li­che Arm­be­we­gung dehnt die Brust­mus­ku­la­tur und kor­ri­giert die Hal­tung im Schul­ter­be­reich. Der Anspan­nung in der auf­wärts­ge­rich­te­ten Bewe­gung folgt die bewuss­te Ent­span­nung im Sin­ken las­sen (hier kön­nen z.B. ganz bewusst die Schul­tern ent­spannt wer­den), dem außen Stei­gen der Arme folgt das innen Sin­ken der Arme, der Bewe­gung folgt die Gegen­be­we­gung — dem Yang folgt das Yin. Dies ist einer der Haupt­grün­de, war­um mei­ner Erfah­rung nach Qi Gong zur Kor­rek­tur und Kom­pen­sa­ti­on ein­sei­ti­ger kör­per­li­cher Belas­tun­gen so her­vor­ra­gend geeig­net ist.

Der ganz­heit­li­che posi­ti­ve Effekt ist eine regu­lie­ren­de Wir­kung auf den Qi-Kreis­lauf und damit auch auf Atmung, Herz und Kreislauf.

Schluss­be­mer­kung

Ange­merkt sei hier zunächst noch, dass es hin­rei­chend Lite­ra­tur über Qi Gong-Übun­gen gibt — von ein­fa­chen Übun­gen bis hin zu den schon erwähn­ten kom­ple­xen Bewe­gungs­zy­klen. Die­se kann zwar kei­nes­falls die kom­pe­ten­te per­sön­li­che Anlei­tung durch einen erfah­re­nen Leh­rer erset­zen, aber es las­sen sich dar­in durch­aus wich­ti­ge und wert­vol­le Anre­gun­gen und Hil­fe­stel­lun­gen finden.

Es erge­ben sich — wie oben ansatz­wei­se dar­ge­stellt — unzäh­li­ge Ansatz­punk­te, Übun­gen und Tech­ni­ken des Qi Gong sinn­voll und effi­zi­ent mit der musi­ka­li­schen Tätig­keit zu ver­bin­den. Mit dem rich­ti­gen Ansatz und unter kom­pe­ten­ter Anlei­tung kön­nen die posi­ti­ven Aus­wir­kun­gen des Qi Gong auf Atmung (= musi­ka­li­sche Gestal­tung und Stress­prä­ven­ti­on), Ent­span­nung (= frei­er Bewe­gungs­fluss, Sen­si­bi­li­sie­rung und Ver­bes­se­rung der Spiel­tech­nik) und Hal­tungs­kor­rek­tur (= Aus­gleich der phy­si­schen Belas­tung durch die Spiel­hal­tung) mit­ein­an­der ver­bun­den wer­den. Die Effi­zi­enz des Übens kann erheb­lich gestei­gert wer­den und Hal­tungs­pro­ble­ma­ti­ken kön­nen im Ansatz wir­kungs­voll beho­ben bzw. kom­pen­siert wer­den. Qi Gong ist somit eine wert­vol­le Ergän­zung zum Üben — für Pro­fis und Amateure.

(1)Vgl.: J. Kaptchuk, Das gro­ße Buch der chi­ne­si­schen Medi­zin, Mün­chen, 1997, S. 14 ff.
(2)ebenda, S. 18.
(3)ebenda, S. 19
(4)J.C. Coo­per, Der Weg des Tao, Bern Mün­chen Wien, 1977, S.33.
(5)In der TCM umfasst die Phy­to­the­ra­pie die Behand­lung mit pflanz­li­chen und tie­ri­schen Sub­stan­zen und Mineralien.
(6)Gezielte Erwär­mung aus­ge­wähl­ter Akupunkturpunkte.
(7)G. Wen­zel, Qi Gong – Quel­le der Lebens­kraft, Bad Sau­er­brunn, 1996, S. 311.
(8)Leit- oder Ener­gie­bah­nen, Vgl. eben­da, S. 163.
(9)Vgl.: G. Herr­gott, Die Topo­lo­gie der Span­nung, Teil 2, Üben & Musi­zie­ren 1/93.
(10)Vgl.: W. Rüdi­ger, Atem und Aus­druck im Instru­men­tal­un­ter­richt, Üben & Musi­zie­ren 4/93.
(11)Ruhige Übun­gen im Sit­zen, Ste­hen oder Lie­gen zur Schu­lung von Atmung, Kon­zen­tra­ti­on, Kör­per­wahr­neh­mung und Visualisierung.
(12)Diese Zun­gen­po­si­ti­on wird im Qi Gong ‘Elstern­brü­cke‘ genannt und schließt den Meri­dian­ver­lauf zwi­schen auf- und abstei­gen­dem Meri­di­an kreis­för­mig ab – das Qi kann zirkulieren.
(13)Diese Hal­tung wird im Qi Gong ‘Hän­de auf Dan Tien‘ genannt; Frau­en legen die rech­te, Män­ner die lin­ke Hand nach unten.
(14)Huyin = Yin-Punkt, liegt im Damm.
(15)Yongchuan = ‘spru­deln­de Quel­le‘ ist der Anfangs­punkt des Nie­ren­me­ri­di­ans in der Mit­te des vor­de­ren Drit­tels der Fußsohle.
(16)G. Wen­zel, Qi Gong, Bad Sau­er­brunn, 1995, S. 316.
(17)Vgl.: G. Herr­gott, Die Topo­lo­gie der Span­nun­gen Teil 1 und 2, Üben und Musi­zie­ren 6/92 und 1/93.
(18)Vgl.: L.V. Schoe­fer, Qi Gong – Hil­fen für den All­tag, Niedernhausen/Ts., 1994, S. 38 f.
(19)K. Scheit, Fran­cis­co Tar­re­ga – Sämt­li­che tech­ni­schen Stu­di­en, Uni­ver­sal Edi­ti­on, Wien.
(20)R. Iznao­la, Kit­ha­ro­lo­gus, Chan­ter­el­le, Hei­del­berg, 1993.
(21)A. Car­le­va­ro, Seria Didac­ti­ca para Gui­tar­ra – Cua­der­no No 2, Bue­nos Aires.
(22)Hexiangzhuang = 6 Übun­gen des flie­gen­den Kra­nichs. Eine Fol­ge von 6 in sich abge­schlos­se­nen Ein­zel­übun­gen mit kom­ple­xen, koor­di­nier­ten Arm‑, Bein- und Rumpf­be­we­gun­gen und Schrittarbeit.
(23)Fafanhuagong = Acht­fa­che Rück­kehr, 8 Übun­gen, vgl. Hexiangzhuang.
(24)Dan Tien = Ener­gie­zen­trum. Wört­lich: Zin­no­ber­feld. Zin­no­ber ist im Dao­is­mus die Bezeich­nung für die ´unsterb­li­che Essenz´. Der obe­re Dan Tien liegt unter dem Meri­di­an­punkt Tian­mui an der Nasen­wur­zel, der­mitt­le­re Dan Tien liegt unter dem Punkt Shang­zhong in der Mit­te der Brust auf der Höhe der Brust­war­zen und der unte­re Dan Tien liegt unter dem Punkt Qihai etwa drei Quer­fin­ger breit unter­halb des Bauch­na­bels. Ein Dan Tien hat immer eine räum­li­che Aus­deh­nung im Kör­per, die bei ent­spre­chen­der Qi Gong-Übung wahr­nehm­bar ist.