Qigong: Wu Wei — Tun durch “Nicht-Tun” in der Praxis des Instrumentalspiels (tiandiren-journal, 9.Ausgabe, März 2001)
Auf Grund mehrerer von mir verfasster Artikel zum Thema Qigong für Musiker(1) werde ich immer wieder auf das in diesen Artikeln ansatzweise dargelegte Prinzip des Wu Wei — Tun durch Nicht Tun angesprochen. Die Nachfragen zielen ab auf die konkrete Anwendung dieses Prinzips in der musikalischen Praxis.
Zunächst möchte ich hier die theoretischen Grundlagen dieses Begriffs noch einmal kurz darlegen, soweit sie für uns Musiker relevant sind, um dann den Praxisbezug herzustellen und die Anwendung dieses Prinzips in der Übe- und Vortragspraxis darzulegen.
Viel Spaß beim Lesen!
Ihr Frank Hartmann
Wu Wei
Aus der Qigong Praxis kennen wir den Begriff der ‚Einspitzigkeit (2)’
Körper, Geist und Empfindung sind auf eine Übung ausgerichtet und in dieser Übung quasi gebunden. Dieses Einswerden mit sich selbst führt zu Wu Wei — dem ‚Tun durch Nicht Tun’, das J.C. Cooper in seinem Buch ‚Der Weg des Tao’ als ein Handeln beschreibt, das „so ungezwungen und natürlich ist, dass es die gewöhnliche Bedeutung von Handeln mit seinem dazugehörigen Überlegen und Abwägen verliert, und das so in völliger Harmonie mit der Natur ist, dass es einfach nur ist, ohne dass man darüber nachdenken muss (3)“. Es wird also das völlige Einswerden des Übenden mit der von ihm ausgeführten Übung angestrebt.
Gerade dieses Einssein mit sich selbst und dem, was man gerade tut (dem Stück, das man gerade spielt — musikalisch und spieltechnisch), ist für jede Musikerin und jeden Musiker die Voraussetzung für eine überzeugende Interpretation und gleichzeitig der beste Lösungsansatz für Stress- und Verspannungsprobleme. Gedanken und Gefühle sind nach innen und auf die Musik gerichtet und dort gebunden, die Bewegungen verlaufen im Rahmen der anatomischen Möglichkeiten harmonisch, rund und weich fließend von innen nach außen, und eine statische Haltung (Verkrampfung) wird durch den Bewegungsfluss des ganzen Körpers von vornherein vermieden. So werden der Musiker und die interpretierte Musik Teil eines umfassenden Konzepts von Wu Wei — ist der Interpret eins mit sich selbst, kann er eins werden mit der Musik. Aber wie funktioniert das nun in der Praxis?
Üben und Wu Wei
Am Beispiel des instrumentalen Übens lassen sich sehr eindrucksvoll einige wesentliche und grundlegende Problematiken der künstlerischen Arbeitsphasen aufzeigen.
Üben und Erarbeiten ist immer zielgerichtet — am Schluss der Arbeitsphase soll ein konkretes Endergebnis stehen, das den jeweiligen künstlerischen und instrumentaltechnisch/’handwerklichen’ Vorstellungen entspricht. Aus diesem Ansatz ergeben sich einige grundsätzliche Probleme.
So kann die ständige ‚Präsenz’ des angestrebten ‚perfekten’ Endergebnisses extrem frustrierend wirken, vor allem wenn die Gedanken und Intentionen an dieser Zielvorstellung ‚hängen bleiben’ und nicht zum Weg dorthin zurück finden.
Üben ist immer auf Verbesserung und Entwicklung ausgerichtet — so wohl spieltechnisch als auch musikalisch. Dies führt sehr leicht da zu, das man sich bemüht und anstrengt. Die innere Anspannung und damit auch die muskuläre Spannung steigen dadurch und dies ist für den Spiel- und Bewegungsfluss naturgemäß äußerst kontraproduktiv.
Die Betrachtung einer Entwicklung erfordert auch eine begleitende eigene Beurteilung und hier liegt die Gefahr, dass die Aufmerksamkeit in der Beurteilung gefangen bleibt und nicht mehr zur Entwicklung zurückfindet.
Das Ziel der Verbesserung erfordert auch den Vergleich ‚vorher nach her/gestern heute’ und führt so die Aufmerksamkeit sehr leicht vom ‚Tun’ zum ‚Wollen’.
Für alle genannten Probleme lässt sich eine gemeinsame Überschrift finden: Die Aufmerksamkeit liegt beim ‚darüber Nachdenken – Beurteilen — Wollen’, und nicht beim ‚geistigen Tun — sich selbst Anleiten — Tun im Hier und Jetzt’. Das Prinzip des Wu Wei beim Üben bedeutet für mich, Disziplin und ‚Willenskraft’ einzusetzen, bis ich anfange zu üben. Im Moment des Übens gibt es natürlich analysierende und beurteilende Phasen, aber das Üben selbst erfolgt im ‚absichtslosen’ Tun, oder wie uns das Tao Te King lehrt — ‚Der Weg ist das Ziel’.
Jedes einzelne zu übende Stück wird zerlegt in Teilaspekte, einzeln analysiert, verinnerlicht und sozusagen ‚aus dem Inneren der Bewegung’ heraus betrachtet und erfahren. Ich versuche die Bewegung mit den Fingern, Gelenken, Muskeln mit dem Bewegungsapparat als Ganzem zu ‚sehen’, anzunehmen und zu verinnerlichen, immer bereit, auf auftretende Probleme zu reagieren, ohne jegliche Ungeduld oder Gedanken an das Ziel — die ‚Beherrschung’ des ganzen Stückes.
So gesehen ist Üben nicht erarbeiten eines Stückes sondern Erlangung des Stückes durch bewusste Unterordnung unter die Gesetzmäßigkeiten dieses konkreten Musikstückes. Dies betrifft selbstverständlich auch die musikalische Interpretation, und so verstehe ich J.C. Cooper, wenn er sagt, Wu Wei sei „… das ruhige Hinnehmen des Lebens in der Welt, wie es kommt und wie es ist, das Warten auf die rechte Zeit, kein Erzwingen eines Ergebnisses, sondern ein Zulassen desselben,
so dass es sich nach seiner eigenen Zeit und Eigenart entfalten kann. (4) “
Vortrag und Wu Wei
Beim Vortrag eines Musikstückes liegt die Problematik zunächst gänzlich anders als in der Übungsphase. Beim konzertanten Vortrag muss der Interpret jetzt in diesem Moment jede Note überzeugend gestalten, die Konzentration und kreative Gestaltungskraft für die Dauer des gesamten Werkes halten, und er hat für jeden Ton, für jede Passage nur einen Versuch. Unter diesem enormen Druck ist verständlicher Weise der Schritt vom ‚Müssen’ zum ‚Geschehen lassen’, vom Tun zum Nicht Tun besonders schwer. Trotzdem oder gerade deswegen ist hier der Lösungsansatz derselbe, wie beim Üben beschrieben — Wu Wei!
Zur Verdeutlichung hier noch einmal zwei Zitate von J.C. Cooper im Zusammenhang mit Wu Wei: „Der Mensch kann selbst nur hervorbringen, was in ihm ist; aus einem chaotischen und desintegrierten Charakter kann nur Chaos hervorgehen. (5)“ und „Nicht — Handeln ist eine innere Qualität; sie mag passiv sein, aber es ist eine schöpferische Passivität. (6)“
In der Praxis führt das 3‑fache Ein- und Ausatmen zur Einspitzigkeit und damit zu Wu Wei: Einatmen und mit dem Ausatmen die Bewegungsabläufe des Anfangsmotives vorausdenken — geistige Sammlung und motorische Koordination! Einatmen und mit dem Ausatmen das Anfangsmotiv still innerlich voraussingen — Sammlung der Gefühle über die Interpretation! Einatmen und mit dem Ausatmen spielen!
Atmung, Bewegungsvorstellung und musikalische Vorstellung — Körper, Geist und Emotion werden durch das verbindende Glied ‚Atmung’ zusammengeführt und in der Interpretation verbunden. Die Intention und Konzentration wird von der eigenen Person des Interpreten, seinen Gedanken über seine Befindlichkeit und die Vortragssituation auf das Stück, die Interpretation und das Tun durch Nicht-Tun umgelenkt und kann an geeigneten Stellen wie z.B. Zäsuren, Neuansätzen oder Wiederholungen immer wieder durch bewusste musikalische Vorstellung verbunden mit bewusstem Atem neu an der Interpretation festgemacht werden.
Eine geistige Vorübung im Sinne der oben genannten Zitate ist die bewusste Verlagerung der Intention und Konzentration von „Ich spiele die Fuge A‑moll von J.S. Bach“ hin zu „Ich spiele die Fuge A‑moll von J.S. Bach“.
Schlussbetrachtung
Wu Wei in der Praxis des Instrumentalspieles ermöglicht im besten Fall die ungestörte und optimale Reproduktion eingeübter Bewegungsabläufe und das freie Fließen der kreativen und produktiven Energie in der Interpretation.
Mein Ansatz, dies zu erreichen, ist, das Werk als ‚Form’ zu betrach- ten, die ich von innen heraus wahrnehme und interpretiere, in die ich meinen ‚Geist’ einströmen lasse, um sie wieder lebendig werden zu lassen. Es ist letztendlich die Unterwerfung und die Unterordnung des Interpreten unter das Werk, um sich so das Werk in ‚schöpferischer Passivität’ anzueignen, sich letztlich in den Dienst der Interpretation zu stellen. Dieser Ansatz stellt das persönliche Streben, Wollen, Denken zurück zu Gunsten des Einswerdens und Einsseins mit dem Werk — Wu Wei.
Alles Gesagte habe ich hier bewusst absolut formuliert, um durch Relativierungen keine Unklarheiten entstehen zu lassen. Es bleibt mir zum Schluss anzumerken, dass auch ich noch jeden Tag und mit jedem Ton, den ich spiele, an diesem Konzept übe und dabei mit jedem Tag und jedem Ton sicherer werde — Wu Wei ist für mich der richtige Weg zur spieltechnischen Souveränität und musikalischen Interpretation.
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(1) u.a.: Gitarre & Laute 3/99, Qigong für Musiker; Gitarre & Laute 5/99, Wu Wei — Tun durch Nicht-Tun, ein Diskussionsbeitrag zur Spieltechnik der rechten Hand; Üben & Musizieren 5/99, Musik und Qi Gong.
(2) G. Wenzel, Qi Gong — Quelle der Lebenskraft, Bad Sauerbrunn, 1996, S. 258 ff.
(3) J.C. Cooper, Der Weg des Tao, Bern München Wien, 1977, S. 98.
(4) Ebenda, S. 99.
(5) Ebenda, S. 100.
(6) Ebenda, S. 99.