Wu Wei — Tun durch Nicht Tun (Gitarre & Laute, Jahrgang XXI, Heft 5/1999)
Ein Diskussionsbeitrag zur Spieltechnik der rechten Hand
von Frank Hartmann
Aus meiner nunmehr über 15-jährigen Tätigkeit als privater Musiklehrer für Konzertgitarre in Fürth sind mir die bei der Spieltechnik der rechten Hand auftretenden Probleme aus der Unterrichtspraxis wohlvertraut. Schon während meiner Instrumentalausbildung bei Kurt Hiesl in Nürnberg waren in der spieltechnischen Ausbildung der rechten Hand neben der reinen Geläufigkeit Anschlagskultur und Tonbildung Schwerpunkte des Unterrichts, und ich habe diesen Ansatz meiner musikpädagogischen Praxis zugrunde gelegt — der Ton, und damit letztlich die Funktionalität der rechten Hand artikulieren die Musik.
Als ich im Schuljahr 1997/98 eine Schülerin in kürzester Zeit spieltechnisch und musikalisch zur Studiumsreife führte und mit ihr ein Programm für die Aufnahmeprüfung erarbeitete, entschloss ich mich, meine Kenntnisse aus außermusikalischen Bereichen systematisch mit in den Unterricht einzubeziehen. Unter anderem entstand daraus der von mir entwickelte Ansatz ‚Qi Gong für Musiker’, in Heft 3/99 von Gitarre & Laute dargelegte Ansatz, die von mir bei meinem Qi Gong und Kampfkunstlehrer Helmut A. Bauer in Bamberg u.a. während meiner Ausbildung zum Qi Gong — Übungsleiter erworbenen Kenntnisse und Verfahren des Qi Gong in das Instrumentalspiel zu integrieren.
Selbstverständlich war aber auch die Spieltechnik der rechten Hand ein zentrales Thema der Prüfungsvorbereitung meiner Schülerin, und ich nahm dies zum Anlass, mich zum wiederholten Male intensiv mit den funktionalen anatomischen und physikalischen Grundlagen der Spieltechnik der rechten Hand zu befassen.
Spielhaltung und Bewegungsgeschwindigkeit
Wie ich in meinem oben schon erwähnten Aufsatz ‚Qi Gong für Musiker’ unter anderem bereits dargelegt habe, ist Lockerheit die unabdingbare Voraussetzung für eine hohe Bewegungsgeschwindigkeit. Im übrigen kennt dieses Phänomen wohl jeder Instrumentalist aus der Spielpraxis in seiner negativen Ausprägung: je verspannter/verkrampfter man ist, desto langsamer bzw. unkoordinierter ‚laufen’ die Finger.
Interessant sind in diesem Zusammenhang die von K. Tittel ausführlich in seinem Buch beschriebenen Grundlagen der funktionellen Anatomie(1) und die Übertragung dieser Prinzipien auf Haltung und Spieltechnik am Beispiel von Streichern und Pianisten durch G. Schnack(2) . Im Nachfolgenden werde ich versuchen, Entsprechendes kurz skizziert für die Gitarrenhaltung darzulegen.
K. Tittel beschreibt anschaulich, dass die Muskulatur funktional im Verband sogenannter Muskelschlingen zusammenarbeitet(3) und nur bei optimaler Leistungsfähigkeit aller beteiligten Muskeln ein entsprechendes Ergebnis zu erzielen ist. In streng schematisiert eingezeichneten Muskelschlingen stellt er die entsprechenden Muskelgruppenverbindungen anschaulich dar. Er weist dabei ausdrücklich darauf hin, dass „…ein verkürzter tonischer Muskel seinen phasischen Antagonisten(4) reflektorisch hemmt und damit dessen optimale Aktivierung verhindert;…(5)“. Die tonische Muskulatur umfasst unter anderem den großen Brustmuskel, die tiefe, kurze und lange Rücken-streckermuskulatur, die ischio-crurale Muskulatur und den Lenden Darmbeinmuskel.
Dass diesen Muskelgruppen bei der Gitarrenhaltung eine durchaus wichtige Aufgabe zukommt, ist aus der Skizze 1 deutlich zu ersehen. Diese Muskeln stabilisieren den Oberkörper in der sitzenden Spielhaltung und sind je nach Neigung des Oberkörpers einer mehr oder weniger hohen statischen Belastung unterworfen.
Auf einseitige Belastungen, wie es zum Beispiel das andauernde Sitzen in der Gitarrenspielhaltung beim Üben bzw. beim musikalischen Vortrag darstellt, reagiert diese Muskulatur tendenziell mit einer Verkürzung. Dies äußert sich sowohl in Schmerzen in der Muskulatur als auch, wie oben bereits angesprochen, in einer Reduktion der Bewegungsfähigkeit und ‑geschwindgkeit auf Grund einer reflekorischen Hemmung.
Je nach Neigung des Oberkörpers und je nach Spielhaltung mit Fußstuhl oder Stütze ändert sich die Belastung der tonischen Muskulatur erheblich, und dies wird über den Verband der Muskelschlingen über die Muskulatur der Arme bis in die Feinmotorik der Finger als erhöhte ‚Vorspannung’ der betroffenen Muskeln weitergegeben (Skizze 2 und 3). Hinzu kommen noch über die Muskelschlingen übertragene ‚Vorspannungen’ durch Seitwärtsneigung oder Verdrehung des Oberkörpers. Die entsprechenden Muskelschlingen sind in Skizze 4 und 5 eingezeichnet(6), und es ist deutlich erkennbar, dass hier Übertragungen in die Arme und damit Beeinflussungen der Spielfähigkeit stattfinden können.
Diese ‚Vorspannungen’ der Muskulatur können in der Summe durchaus eine erhebliche bewegungseinschränkende bzw. hemmende Wirkung entwickeln und somit zu einem spieltechnisch relevanten Problem werden. Es bleibt zusammenfassend festzuhalten, dass jede an einer beliebigen Stelle einer Muskelschlinge eingebrachte Belastung oder Spannung über die Verkettung der einzelnen Muskeln und Muskelgruppen zu einer funktionalen Muskelschlinge auf alle anderen an dieser Muskelschlinge beteiligten Muskeln übertragen wird, und so auch auf diese bewegungshemmend bzw. belastend wirkt.
Streckerschlinge = schwarz; Beugerschlinge = rot
Dies soll hier als Anregung genügen, über die Beschaffenheit der eigenen Muskulatur bezüglich Kraft, Lockerheit, Dehnfähigkeit, etc. und die Auswirkung der Spielhaltung auf Geläufigkeit, Geschwindigkeit und Klangkultur nachzudenken. Linderung und Abhilfe bei Beschwerden bzw. spieltechnischen Problemen sowie Anregungen und Erfahrungen zum Umgang mit Haltung und Bewegung und Transfermöglichkeiten in den Spielprozess bietet, wie ich in meinem Artikel ‚Qi Gong für Musiker’ ausführlich dargelegt habe, die chinesische Bewegungskunst Qi Gong als Bestandteil der traditionellen chinesischen Medizin.
Physikalische Grundlagen des Anschlags
Die Schwingungsenergie der angeschlagenen Saite und damit Lautstärke und Tonvolumen sind direkt abhängig von der kinetischen Energie des anschlagenden Fingers, wobei die kinetische Energie das Produkt der Hälfte der beschleunigten Masse mit dem Quadrat der Geschwindigkeit ist.
E = m/2 * v2
Es ergibt sich danach, dass die beschleunigte Masse des Fingers nur zur Hälfte eingeht, die Bewegungsgeschwindigkeit aber im Quadrat. Es ist also offensichtlich, dass die kinetische Energie mit dem Quadrat der Geschwindigkeit steigt und somit eine Beschleunigung des anschlagenden Fingers eine optimale Steigerung der Bewegungsenergie und somit auch eine Optimierung der vorgenannten Klangparameter erreicht, wobei eine hohe Bewegungsgeschwindigkeit des Anschlagsfingers auch die Grundvoraussetzung für schnelles Spielen ist.
Anatomische Grundlagen des Anschlags
Ausgehend von einer Spielhaltung, die den Transfer störender muskulärer Belastungen in die spieltechnisch relevanten Muskelschlingen minimiert bzw. vermeidet, sollen nun im Folgenden die funktionalen Grundlagen des Anschlags betrachtet werden.
Um einen optimalen Transfer der kinetischen Energie des anschlagen den Fingers in Schwingungsenergie der angeschlagenen Saite zu gewährleisten, muss zunächst ein ‚Nachgeben’ der Fingergelenke im Moment des Anschlags vermieden werden. Da ein ‚Festhalten’ der Gelenke zu einer statischen Muskelspannung und damit zu Verkrampfungen und geringerer Beweglichkeit führen würde, liegt die Lösung dieses Problems im gezielten beugenden Einsatz aller Gelenke des Anschlagsfingers, wodurch ein Abkippen speziell des Fingerendgelenkes zuverlässig vermieden werden kann.
Vor weiteren Erläuterungen sei hier zunächst noch festgestellt, dass die beugende Muskulatur (z.B. Bizeps) der oberen Extremitäten wesentlich stärker ausgeprägt ist, als die streckende (z.B. Trizeps) — der Körper entwickelt seine maximale Kraft quasi ‚nach innen’ oder schließend, und dies gilt in besonderem Maße für die Hand und damit auch für jeden einzelnen Finger. Nachdem die beugenden Muskeln aber auf der Innenseite des zu beugenden Knochen ansetzen, ist für die optimale Übertragung der Bewegung und Kraft ein vorgebeugtes Gelenk Voraussetzung, da sonst der beugende Muskel in einem sehr ungünstigen Ansatzwinkel seine Kraft nicht optimal in Bewegung umsetzen kann(Skizze 6 + 7 – schematisierte Darstellung der Wirkung der Beugekraft, der Pfeil gibt die Zugrichtung des Muskels an).
Die optimale Kraftentwicklung und Übertragung ergibt sich also bei Vorbeugung aller Gelenke des anschlagenden Fingers (Skizze 8).
Die Steifigkeit oder Gegenkraft der Saite kann bei dieser Gelenkstellung des Fingers optimal überwunden werden, da hier zudem alle Gelenke in gleicher Richtung — nämlich beugend — benutzt werden und somit keine ‚Gegenbewegung’ mit entsprechendem Kraft und Energieverlust stattfindet.
Hier sei noch einmal verwiesen auf das von K. Tittel in seinem vorgenannten Buch beschriebenen Prinzip der Muskelschlingen(7), wonach sich Muskeln zu funktionellen Muskelgruppen zusammenschließen und unter Einbeziehung interner und externer Rückkoppelungsmechanismen quasi miteinander kommunizieren — also ihre Bewegungsrichtung und ‑intensität den anderen Muskeln in der Muskelschlinge mitteilen und diese animieren, sich in gleicher Bewe-gungsrichtung und ‑intensität zu bewegen.
Ein nach außen gerichtetes/gestrecktes Gelenk in einer eigentlich geschlossen nach innen gerichteten — also gebeugten — Gelenkreihe erzeugt daher immer erhebliche muskuläre Spannungen, da hier das Funktionsprinzip der Muskelschlinge quasi gewaltsam, also durch erhebliche muskuläre Kraft und Anstrengung, durchbrochen wird — der entsprechende Beugermuskel will sein Gelenk beugen, und gegen diese Kraft erzwingt der Streckermuskel die Gegenrichtung. Dies führt selbstverständlich zu entsprechenden Verspannungen und Verkrampfungen und behindert die Spielfähigkeit nachhaltig.
Als praktisches Beispiel einer korrekt geschlossen nach ‚innen’ gebeugten Gelenkreihe sei hier die Haltung des rechten Armes mit dem Bogen im Handgelenk der rechten Hand angeführt, wobei sich das Handgelenk in der sogenannten ‚Neutral Null Position’(8) befindet. Dass Extrempositionen in Gelenken grundsätzlich vermieden werden sollten, ergibt sich aus der Tatsache, dass ein Muskel in seine maximale Kontraktion oder Dehnung gehen muss, um extreme Gelenkstellungen zu ermöglichen, und ein derart belasteter Muskel natürlich nicht locker sein kann. Zudem übt eine derart belastete Muskulatur auch erheblichen Druck auf das ihn umgebende Gewebe aus. Hier sind funktionell gesehen vor allem Sehnen, Sehnenscheiden und ‑fächer von Interesse.
Diese Druckbelastung kann zu spieltechnischen Problemen und bleibenden Schäden in den genannten Bereichen führen(9). Zusammenfassend ergibt sich aus diesen Überlegungen, dass sich — mit einiger Übung — eine optimale Anschlagsbeschleunigung und ein maximaler Energietransfer auf die Saite erreichen lässt, wenn man das Prinzip der runden, in einer Richtung geschlossenen Bewegungskette sowohl in der Gitarren- und Armhaltung als auch beim Anschlag des Fingers beachtet.
Kampfkunst und Anschlagstechnik
Ist die Konzentration im Moment des Anschlagens auf die zu spielende Saite gerichtet, wird das Ergebnis allerdings relativ unbefriedigend ausfallen. Der Grund liegt darin, dass die kinetische Energie bis zum Erreichen des Zieles — hier der zu spielenden Saite — optimal entwickelt wird und die Bewegung beim Erreichen des Zieles endet, und damit auch die kinetische Energie. Ist die Saite erreicht, wird der Finger, anstatt schwungvoll anzuschlagen, quasi nur noch durchgedrückt!
Ein Kampfsportler ‘denkt‘ seinen Schlag immer durch das Ziel hindurch, um im Moment des
Auftreffens die maximale kinetische Energie für den Schlag zur Verfügung zu haben – die Bewegung und damit auch die kinetische Energie endet hinter dem Ziel.
Zum Transfer dieser Technik auf die Anschlagsbewegung empfiehlt sich nach meiner Erfahrung das apoyando Spiel, der Wechselschlag mit Anlegen. Durch das Anlegen des anschlagenden Fingers an der tieferen Nachbarsaite der gespielten Saite wandert der Ziel und Endpunkt der Bewegung hinter die klingende Saite — die kinetische Energie des an schlagenden Fingers ist im Moment des Anschlags maximal und erst im Augenblick des Anlegens erschöpft. Der Saitenwiderstand kann so optimal überwunden werden, die Finger geben in den Gelenken nicht nach und die Saite wird maximal ausgelenkt — es erklingt ein klarer, kraftvoller Ton, der nach Belieben in Klangfarbe und Dynamik modulierbar ist. Nach entsprechender Übung kann dieses Bewegungsprinzip auch auf das tirando-Spiel übertragen werden. Hier muss nun ein imaginäres Ziel hinter der zu spielenden Saite anvisiert werden.
Vom Anschlag zum Wu Wei
Wie bereits oben dargestellt, ist die beugende Muskulatur wesentlich stärker ausgeprägt als die streckende Muskulatur. Daraus folgt die zunächst banale Erkenntnis, dass die Hand und damit auch die einzelnen Finger schließend die maximale Kraft entwickeln.
Bedingt durch das schon ausführlich dargelegte Grundprinzip der Muskelschlingen wollen alle Finger ihre Bewegungen synchron in gleicher Richtung ausführen. Eine Gegenbewegung einzelner Finger fällt zunächst schwer und bedarf der Übung. Bei Anschlagsübungen wird durch das fortgesetzt wiederholte Überwinden des Saitenwiderstandes ausschließlich die beugende Muskulatur, also die von Natur aus sowieso wesentlich stärkere Muskulatur der Finger, gekräftigt. Die Folgen aus dieser Übungsweise sollen nun im Detail betrachtet werden.
Ausgehend von der Annahme, dass der Mittelfinger ‚m’ angelegt ist, er gibt sich für seine Beugemuskulatur eine erhöhte Vorspannung nach innen. Diese Vorspannung wird über die Muskelschlinge an die Beugemuskulatur des Zeigefingers ‚i’ und des Ringfingers ‚a’ übermittelt. Gegen diese von ‚m’ übermittelte Vorspannung seiner Beugemuskulatur muss nun ‚i’ von seinen erheblich schwächeren Streckermuskeln nach außen beschleunigt werden, um für den nächsten Anschlag auszuholen. Die Ausholbewegung wird daher relativ kraftlos und vor allem langsam ausfallen.
Die beschriebene Situation ändert sich nur unwesentlich, wenn Wechselschlag im tirando, also ohne Anlegen gespielt wird. Durch die Überwindung des Saitenwiederstandes wird der Beugemuskel bei jedem Anschlag gekräftigt. Dieses Krafttraining entfällt für die streckende Muskulatur, da beim Ausholen kein Saitenwiderstand überwunden werden muss!
Krafttraining für die Streckermuskulatur tut also Not, um die muskuläre Dysbalance zwischen Agonist und Antagonist auszugleichen und das Ausholen zu beschleunigen. Hier bieten sich alle Anschlagsarten an, die den Saitenwiderstand nach außen überwinden, z.B. Dodillio und Rasguedo, geübt mit einer bewussten Betonung auf den Anschlag nach außen.
Da die Beugemuskulatur stärker und kürzer ist als die Streckermuskulatur, schließen die Finger der Hand in entspanntem Zustand von allein, und nach entsprechendem Dodillio- und Rasguedotraining kann dazu übergegangen werden, dass man sich ausschließlich auf das Ausholen konzentriert und den Anschlag sozusagen seinem Finger bzw. seiner Motorik überlässt, mit der Vorstellung, das Ziel und damit der Endpunkt der Bewegung liege hinter der klingenden Saite. Diese Vorgehensweise lässt sich auf alle Anschlagsarten, ob apoyando oder tirando, Melodie- oder Akkordspiel, übertragen.
Dieses Funktionsprinzip lässt sich am Beispiel eines Bogenschützen gut darstellen. Der Strecker des Fingers entspricht dem Bogenschützen, der die Bogensehnen, in unserem Bild den Beugemuskel, spannt. Lässt der Bogenschütze die Bogensehne los, entspannt sie sich und setzt ihre Spannungsenergie in Bewegungsenergie um — der Pfeil wird abgeschossen. Der Streckermuskel beschleunigt den Finger im Ausholen nach außen und ‚spannt’ dabei den Beugemuskel vor, der im Moment des Anschlags seine Vorspannung in die
Bewegung des Fingers nach innen umsetzt und dabei entspannt! Jeder Anschlag bedeutet so Entspannung, da die ‚Anstrengung’ ausschließlich im Bruchteil einer Sekunde während des Ausholens stattfindet und der Anschlag quasi ‚geschieht’.
Dies entspricht einer Form von Wu Wei — Tun durch Nicht Tun — einem „…Handeln, das so ungezwungen und natürlich ist, dass es die gewöhnliche Bedeutung von Handeln mit seinem dazugehörigen Überlegen und Abwägen verliert, und das so in völliger Harmonie mit der Natur ist, dass es einfach nur ist, ohne dass man darüber
nachdenken muss(10).“
Wu Wei heißt also keinesfalls, Fehler zu vermeiden, indem etwas nicht getan wird, was in letzter Konsequenz ja heißen würde, nicht Gitarre zu spielen, um nicht falsch Gitarre zu spielen. Wu Wei meint vielmehr eine Form des ‚Geschehenlassens’ ohne übermäßige Konzen-tration und Anstrengung. Wenn der Anschlag aber so ausgeführt wird, sind Zeit und Geschwin-digkeit sehr relative Größen, und Sechzehntel auf Viertelschläge MM = 144 kein nennenswertes Problem im apoyando Spiel mit ‚i’ und ‚m’.
Schlussbemerkung
Abschließend möchte ich noch anmerken , dass beim ‘konventionellen‘ Anschlag immer Kuppe
und Nagel in gleicher Form und in gleichen Anteilen den Ton formen – unabhängig davon, ob der Anschlag apoyando oder tirando ausgeführt wird. Beim Dodillio hingegen wechseln ständig Noten, die mit Kuppe-Nagel gespielt werden, mit Noten, die mit Nagelaußenseite angeschlagen werden, ab. Dies ergibt ein klanglich uneinheitliches Bild der musikalischen Phrase und ist meiner
Meinung nach aus klangästhetischen Gesichtspunkten nicht zu vertreten.
Musikalische Phrasen können im ‚konventionellen’ Anschlag unabhängig von der Geschwindigkeit der Noten klanglich geschlossen dargestellt werden. Denn „…letztlich entscheidet die rechte Hand über die tonliche Qualität der Musik, und der Ton in seiner musikalisch ästhetischen Substanz erschließt oder verschließt dem Zuhörer das gespielte Werk(11).“
Ein Zugewinn in einem Bereich darf meiner Meinung nach nicht zu Lasten eines anderen Bereiches gehen, da es sich sonst nur um eine Scheinbare Problemlösung, in Wirklichkeit aber um eine Problemverlagerung handelt.
Bei allem „schneller, mehr, lauter“ sollten wir Gitarristen nicht vergessen, dass die eigentliche Stärke unseres Instrumentes die sensible Interpretation der Musik in allen ihren Schattierungen und Nuancen ist, und der musikalische Vortrag auch dem Publikum mehr schuldet als nur Virtuosität — nämlich eine schlüssige Interpretation, Klangsinnlichkeit und Kantabilität.
—
(1)K. Tittel, Beschreibende und funktionelle Anatomie des Menschen, Gustav Fischer Verlag, 1994, Jena, Stuttgart.
(2)G. Schnack, Gesund und entspannt musizieren, Bärenreiter, 1994, Kassel, Basel, London, New York, Prag.
(3)K. Tittel, Beschreibende und funktionale Anatomie, S. 192 ff.
(4)Tonisch meint hier haltend – für die Körperhaltung zuständig, phasisch bewegend.
(5)Ebenda, S. 196.
(6)Vgl. ebenda, S. 241.
(7)Vgl. ebenda, S. 191 ff.
(8)Spannungsgleichgewicht zwischen Beuger- und Streckermuskulatur des Handgelenks bei minimalem Gleitwiderstand der Sehnen in der Hand. Vgl. auch G. Schnack, Gesund und entspannt musizieren, S. 25 f, S. 86 f.
(9)Vgl. G. Schnack, Gesund und entspannt musizieren, S. 25 f.
(10)J.C. Cooper, Der Weg des Tao, Bern, München, Wien, 1997, S. 98.
(11)F. Hartmann, Qi Gong für Musiker, Gitarre & Laute, 3/99, S.18