Locker vom Hocker?!(Gitarre aktuell, 21. Jahrgang, Heft 4/2000)
Diskussionsbeitrag zur Instrumentalhaltung am Beispiel der Gitarre von Frank Hartmann
Aus meiner nunmehr über 15jährigen Tätigkeit als privater Musiklehrer für Konzertgitarre in Fürth sind mit die bei der Spielhaltung der Gitarre auftretenden Probleme aus der Unterrichtspraxis bestens vertraut. Viele spieltechnische Unzulänglichkeiten, wie z.B. mangelnde Geläufigkeit und Koordination, Verkrampfungen und Verspannungen haben ihre Ursache in einer fehlerhaften Spielhaltung.
Als ich im Schuljahr 1997/98 eine Schülerin in kürzester Zeit spieltechnisch und musikalisch zur Studiumsreife führte und mit ihr ein Programm für die Aufnahmeprüfung erarbeitete, entschloss ich mich, die von mir bei meinem Qi Gong?Lehrer Helmut A. Bauer in Bamberg u.a. während meiner Ausbildung zum Qi Gong?Übungsleiter erworbenen Kenntnisse und Verfahren des Qi Gong in das Instrumentalspiel zu integrieren. So entwickelte ich den Ansatz ‚Qi Gong für Musiker’, den ich in verschiedenen Artikeln u.a. in den Fachzeitschriften Gitarre & Laute (3/99), Oben & Musizieren (5/99) und Das Orchester (2/ 00) ausführlich dargestellt habe.
Lockerheit ist die unabdingbare Voraussetzung für eine hohe Bewegungsgeschwindigkeit und einen ungestörten Bewegungsfluss. Jeder Instrumentalist weiß aus der Praxis, dass die Finger umso langsamer bzw. unkoordinierter ‚laufen’, desto verspannter bzw. verkrampfter die Muskulatur ist.
Interessant sind in diesem Zusammenhang die von K. Tittel ausführlich in seinem Buch beschriebenen Grundlagen der funktionellen Anatomie(1). Im Nachfolgenden werde ich versuchen, die Übertragung dieser Prinzipien auf die Gitarrenhaltung kurz skizziert darzulegen. K. Tittel beschreibt anschaulich, dass die Muskulatur funktional im Verband sogenannter Muskelschlingen zusammenarbeitet(2) und nur bei optimaler Leistungsfähigkeit aller beteiligten Muskeln ein entsprechendes Ergebnis zu erzielen ist. In streng schematisiert eingezeichneten Muskelschlingen stellt er die entsprechenden Muskelgruppenverbindungen anschaulich dar. Er weist dabei ausdrücklich darauf hin, dass „… ein verkürzter tonischer Muskel seinen phasischen Antagonisten(3) reflektorisch hemmt und damit dessen optimale Aktivierung verhindert…(4) „Die tonische Muskulatur umfasst unter anderem den großen Brustmuskel, die tiefe, kurze und lange Rückenstreckermuskulatur, die ischio-crurale Muskulatur und den Lenden-Darmbeinmuskel.
Dass diesen Muskelgruppen bei der Gitarrenhaltung eine durchaus wichtige Aufgabe zukommt, ist aus Skizze I deutlich zu ersehen. Diese Muskeln stabilisieren den Oberkörper in der sitzenden Spielhaltung und sind je nach Neigung des Oberkörpers einer mehr oder weniger hohen statischen Belastung unterworfen. Auf einseitige Belastungen, wie zum Beispiel das andauernde Sitzen in der Gitarrenspielhaltung beim Üben bzw. beim musikalischen Vortrag reagiert diese Muskulatur tendenziell mit einer Verkürzung.
Dies äußert sich sowohl in Schmerzen in der Muskulatur als auch, wie oben bereits angesprochen, in einer Reduktion der Bewegungsfähigkeit und –geschwindigkeit auf Grund einer reflektorischen Hemmung.
Je nach Neigung des Oberkörpers und je nach Spielhaltung mit Fußstuhl oder Stütze ändert sich die Belastung der tonischen Muskulatur erheblich, und dies wird über den Verband der Muskelschlingen über die Muskulatur der Arme bis in die Feinmotorik der Finger als höhere oder niederigere ‚Vorspannung’ der betroffenen Muskeln weitergegeben (Skizze II und III). Hinzu kommen noch über die Muskelschlingen übertragene ‚Vorspannungen’ durch Seitwärtsneigung oder Verdrehung des Oberkörpers. Die entsprechenden Muskelschlingen sind in Skizze IV und V eingezeichnet(5), und es ist deutlich erkennbar, dass hier Übertragungen in die Arme und damit Beeinflussungen der Spielfähigkeit stattfinden können. In den Skizzen II bis V sind Beugerschlingen rot und Streckerschlingen schwarz eingezeichnet.
Diese ‚Vorspannungen’ der Muskulatur können in der Summe durchaus eine erheblich bewegungsein-schränkende bzw. ?hemmende Wirkung entwickeln und somit zu einem spieltechnisch relevanten Problem werden. Es bleibt zusammenfassend festzuhalten, dass jede an einer beliebigen Stelle einer Muskelschlinge eingebrachte Belastung oder Spannung über die Verkettung der einzelnen Muskeln und Muskelgruppen zu einer funktionalen Muskelschlinge auf alle anderen an dieser Muskelschlinge beteiligten Muskeln übertragen wird, und so auch auf diese bewegungshemmend bzw. belastend wirkt.
Innerhalb einer Muskelschlinge sind nach K. Tittel(6) die Muskeln zu funktionellen Muskelgruppen zusammengeschlossen und kommunizieren unter Einbeziehung interner und extemer Rückkoppelungsmechanismen miteinander. Sie teilen ihre Bewegungsrichtung und ‑intensität den anderen Muskeln in der Muskelschlinge mit und animieren diese, sich in gleicher Bewegungsrichtung und ‑intensität zu bewegen.
Ein nach außen gerichtetes bzw. gestrecktes Gelenk in einer eigentlich geschlossen nach innen gerichteten — also gebeugten — Gelenkreihe erzeugt daher immer erhebliche muskuläre Spannungen, da hier das Funktionsprinzip der Muskelschlinge quasi gewaltsam, also durch erhebliche muskuläre Kraft und Anstrengung, durchbrochen wird — der entsprechende Beugermuskel will sein Gelenk beugen, und gegen diese Kraft erzwingt der Streckermuskel die Gegenrichtung. Dies führt selbstverständlich zu entsprechenden Verspannungen und Verkrampfungen und behindert die Spielfähigkeit nachhaltig.
Als praktisches Beispiel einer korrekt geschlossen nach ‚innen’ gebeugten Gelenkreihe sei hier die Haltung des rechten Armes mit dem Bogen im Handgelenk der rechten Hand angeführt, wobei sich das Handgelenk in der sogenannten ‚Neutral-Null-Position’(7) befindet.
Dass Extrempositionen in Gelenken grundsätzlich vermieden werden sollten, ergibt sich aus der Tatsache, dass ein Muskel in seine maximale Kontraktion oder Dehnung gehen muss, um extreme Gelenkstellungen zu ermöglichen, und ein derart belasteter Muskel natürlich nicht lokker sein kann. Zudem übt eine derart belastete Muskulatur auch erheblichen Druck auf das sie umgebende Gewebe aus. Hier sind funktionell gesehen vor allem Sehnen, Sehnenscheiden und ?fächer von Interesse. Diese Druckbelastung kann zu spieltechnischen Problemen und bleibenden Schäden in den genannten Bereichen führen(8).
Dem Vorteil der eher symmetrischen Körperhaltung mit Gitarrenstütze und der daraus folgenden geringeren Vorspannung in der linksseitigen Muskulatur steht der u.U. schlechtere Kontakt zum Instrument gegenüber, der das Bedürfnis zum ‚Festhalten’ des Instrumentes und damit wieine höhere muskuläre Vorspannung initiieren kann. Eine Entscheidung für oder gegen Stütze oder Fußstuhl kann also nur individuell für den Einzelfall und nach den vorliegenden spieltechnischen und anatomischen Gegebenheiten getroffen werden, zumal es nüttlerweile eine Unzahl verschiedener Stützen auf dem Markt gibt.
Linderung und Abhilfe bei Beschwerden bzw. spieltechnischen Problemen sowie Anregungen und Erfahrungen zum Umgang mit Haltung und Bewegung und Transfermöglichkeiten in den Spielprozess bietet, wie ich in den oben genannten Artikeln über meinen Ansatz ‚Qi Gong für Musiker’ ausführlich dargelegt habe, die chinesische Bewegungskunst Qi Gong als Bestandteil der traditionellen chinesischen Medizin.
Zusammenfassend ergibt sich aus diesen Uberlegungen, dass die Spielhaltung die tonische Muskulatur möglichst symmetrisch beanspruchen sollte und Extrempositionen sowie ‚Gegenstellungen’ der Gelenke in den Gelenkketten vermeiden sollte. Es sollte also eine möglichst entspannte, aufrechte Haltung bei symmetrischer Belastung der Beine und Hüftgelenke angestrebt werden, die aber keinesfalls mit einem verkrampften, statischen ‚Gerade?Sitzen’ zu verwechseln ist.
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(1)K.Tittel, Beschreibende und funktionelle Anatomie des Menschen, Gustav Fischer Verlag, 1994, Jena, Stuttgart.
(2)K. Tittel, Beschreibende und funktionale Anatomie, S. 192 ff.
(3)Tonisch meint hier haltend — für die Körperhaltung zuständig, phasisch bewegend.
(4)Ebenda, S. 196
(5)Vgl. ebenda, S.241.
(6)Vgl. ebenda, S. 191 ff.
(7)Spannungsgleichgewicht zwischen Beuger und Streckermuskulatur des Handgelenks bei minimalem Gleitwiderstand der Sehnen in der Hand. Vgl. auch G. Schnack, Gesund und entspannt musizieren, S. 25 f, S. 86 f.
(8)Vgl. G. Schnack, Gesund und entspannt musizieren, S. 25 f.